Italien-Pas de deux aus Anna Karenina: Anna Laudere und Edvin Revazov (Foto: Kiran West)
5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI
Schon allein wie Anna Laudere im Italien-Pas de deux in Anna Karenina auf die zarte Berührung Revazovs mit geschmeidigen Bewegungen reagiert, so als ob man beim Zusehen spürt, wie sich ihre feinen Härchen auf den Armen emporstellen, ist überaus sehenswert.
von Dr. Ralf Wegner
Die Rolle des Liliom war Carsten Jung auf den muskulösen Leib geschrieben. Bereits alters- und lebenserfahren, lag ihm die Rolle des etwas proletenhaft auftretenden, aber auch sensibel reagierenden Karussell-Prinzen ganz besonders. Als seine ihn voller Liebe anbetende und die Launen Lilioms klaglos hinnehmende Julie hatte Neumeier die weltweit bewunderte Alina Cojocaru besetzt.
Mit etwas mehr Widerspruchsgeist und das Schicksal nicht so ohne weiteres gnädig hinnehmend gestaltete Hélène Bouchet diese Rolle, allerdings nicht mit Carsten Jung, sondern mit dem in der Darstellung etwas verschlagener auftretenden Ivan Urban. Anna Polikarpova tanzte die betrogene und beraubte Karussellbesitzerin Frau Muskat und Leslie Heylmann (Marie) sowie Konstantin Tselikov (Wolf Beifeld) gaben ein ganz bezauberndes fröhliches Paar ab, welches das Leben, anders als Liliom und Julie, meisterte.
Ein weiterer Tänzer erzielte mit der Rolle des Louis einen großen Erfolg: Aleix Martínez, der mit außergewöhnlicher physischer Anstrengung den pubertierenden, vor Kraft und Lebenslust fast platzenden, aber auch sensibel an seiner Mutter hängenden Sohn von Liliom und Julie zum Leben erweckte. Der Rolle bereits entwachsen beeindruckte Martínez in diesem Stück später als besonders widerwärtig auftretender Gangster Ficsur.
Was John Neumeier neben seinen psychologisch vertieften Choreographien auch auszeichnet, ist sein Sinn für den gesamten künstlerischen Rahmen auf der Bühne. Das betrifft das Bühnenbild, die Kostüme oder auch die Lichtregie. Vor allem kümmerte er sich um die musikalische Begleitung seiner Ballette, er verknüpfte Musik und Tanz zu einem glänzenden Zopf, der im Nachhinein beim Hören von Kompositionen Chopins an die Kameliendame, von Rimsky-Korsakoff an Nijinsky oder von Tschaikowsky beim Italien Pas de deux an Anna Karenina denken lässt.
Für Liliom gelang es Neumeier sogar, den französischen Filmkomponisten Michel Legrand für die Ballettkomposition zu gewinnen. Die Musik dient hier durchgängig der tänzerischen Interpretation, ohne ihre Eigenständigkeit, auch im Sinne eines Ohrwurms, aufzugeben. Leider wurde es versäumt, dieses Ballett mit der Premierenbesetzung auf DVD zu bannen. Schade.
Mit Anna Karenina schuf Neumeier ein großartiges, Tolstois berühmten Roman nicht eins zu eins übersetzendes, sich aber auf die wichtigen Personenbeziehungen konzentrierendes Werk. Ihm stand auch mit Anna Laudere und Edvin Revazov als Anna und Wronski ein Traumpaar zur Verfügung, welches in den Bewegungen völlig miteinander verschmelzen konnte. Schon allein wie Laudere auf die zarte Berührung Revazovs (sie sind miteinander verheiratet) mit geschmeidigen Bewegungen reagiert, so als ob man beim Zusehen spürt, wie sich ihre feinen Härchen auf den Armen emporstellen, ist überaus sehenswert.
Dieses Ballett ist zum Glück verfilmt worden, noch mit einem großartigen Ivan Urban als Karenin, mit einem umwerfenden Aleix Martínez als Lewin, einer großartigen Emilie Mazon als Kitty und einer nicht minder beeindruckenden Patricia Friza als ständig von ihrem Ehemann betrogene Dolly.
2013 wurde außerdem das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach vollständig zur Aufführung gebracht und 2017 gelangte mit Don Quixote eine aus Wien ausgeliehene, mitreißende Choreographie von Rudolf Nurejew zur mehrmaligen Aufführung. Hier zeigte die junge, 2014 aus dem von Neumeier gegründeten Bundesjugendballett übernommene Madoka Sugai ihr außerordentliches Können; seit 2019 tanzt sie als Erste Solistin.
Nicht nur beherrschte Sugai die schwierigen technischen Passagen dieses Stück, sondern berauschte als Kitri mit großer Spielfreude und Natürlichkeit geradezu das Publikum. Zudem hatte sie mit Alexandr Trusch als Basilio einen mustergültigen Partner. Auch die anderen Partien waren herausragend besetzt, so mit Konstantin Tselikov als komischen, aber die Würde wahrenden Brautwerber sowie vor allem die mit einer unvergleichlichen Grandezza von Carsten Jung gespielte Rolle des in seiner Bilderbuchwelt befangenen Don Quixote. Das war eine wahre Meisterleistung.
Dr. Ralf Wegner, 9. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die nächste Folge „Wie wird woanders getanzt? Mit den Ballettfreunden auf Reisen“ erscheint am Freitag, 12. Januar 2024.
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II klassik-begeistert.de, 19. Dezember 2023
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III klassik-begeistert.de, 22. Dezember 2023
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V Staatsoper Hamburg, 5. Januar 2024