Als das Ballett während Corona in vielen Städten darbt, schafft John Neumeier mit Ghost Light ein kammertänzerisches Meisterwerk

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VIII  Staatsoper Hamburg, 16. Januar 2024

Ghost Light: Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann (DVD, Videostill) 

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VIII

Ich habe lange überlegt, was die Faszination von Ghost Light ausmacht. Neumeiers Ballett löst in Kombination mit der Klaviermusik von Franz Schubert ein Gefühl von Einsamkeit vor der Allmacht Gottes aus. Es ist eine Empfindung, wie sie die Betrachtung der Bilder von Caspar David Friedrich abruft, wie sein Mönch am Meer, der in die Unendlichkeit schaut.

Ghost Light: Silvia Azzoni, Alexandre Riabko, Hélène Bouchet, Madoka Sugai, Nicolas Gläsmann (Fotos Kiran West)

von Dr. Ralf Wegner

Während andere Theater schlossen, probte John Neumeier mit Mitgliedern seines Ensem­bles, die sich im Leben nahe standen, ein neues Ballett ein. Er nannte es Ghost Light, passend zu der in Theatern auch auf der leeren Bühne immer brennenden Glühbirne. Zu der ohr­wurm­geeigneten Klaviermusik von Franz Schubert schuf er 2020 eine fast kammertänzerisch wirkende Serie von Soli und Pas de deux, die seinen charismatischen Tänzerinnen und Tän­zern Gelegenheit gaben, ihr Können und ihre Ausdrucksfähigkeit auch unter schwierigen Umständen unter Beweis zu stellen.

Ghost Light: Atte Kilpinen und Emilie Mazon als Günther und Marie (Arte, Videostills)

Neumeier beschränkte sich dabei nicht auf Erste Solisten, sondern band auch Solisten und Ensemblemitglieder in dieses sehr persönliche Ballett ein. Silvia Azzoni und Alexandre Riabko sowie Anna Laudere und Edvin Revazov glänzten mit Pas deux, ebenso Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann sowie Matias Oberlin und David Rodríguez. Soli zeigten u.a. Alexandr Trusch, Christopher Evans und Aleix Martínez, ebenso wie der mittlerweile wieder nach Finnland zurückgekehrte, sprungstarke und auf der Bühne immer jungenhaft gut gelaunte Atte Kilpinen.

Nach der Ghost Light-Aufführung vom 09.09.2020: Nicolas Gläsmann, David Rodríguez, Félix Paquet, Anna Laudere, Michal Bialk (Klavier), Edvin Revazov, Karen Azatyan, Christopher Evans, Silvia Azzoni, Hélène Bouchet, Alexandre Riabko (Foto: RW)

Ich habe lange überlegt, was die Faszination von Ghost Light ausmacht. Neumeiers Ballett löst in Kombination mit der Klaviermusik von Franz Schubert ein Gefühl von Einsamkeit vor der Allmacht Gottes aus. Es ist eine Empfindung, wie sie die Betrachtung der Bilder von Caspar David Friedrich abruft, wie sein Mönch am Meer, der die Unendlichkeit schaut.

Neumeiers Werk löst Erinnerungen an unsere eigene Vergänglichkeit aus. Sein Ballett schenkt uns eine tief ins Seelische greifende innere Ruhe, mit der wir unser – endliches – Schicksal mit mehr Gelassenheit akzeptieren können.

Dabei sind fröhliche Phasen, wie auch sonst im Leben, z.B. die jungenhaften Neckereien zwischen Atte Kilpinen und Karen Azatyan oder zwischen Kilpinen als Günther und Emilie Mazon als Nussknacker-Marie nicht ausgeschlossen. Ghost Light kann damit auch zur Trauerbewältigung beitragen. Das Leben geht weiter, auch wenn die Liebe ein Ende erreicht hat, sei es durch Trennung oder durch Tod.

Dieses Ballett wird nie die Popularität von Neumeiers Kameliendame oder seinem Nussknacker erreichen. Denn Ghost Light fordert innere Sammlung und die Bereitschaft, sich der Endlichkeit des Seins bewusst zu werden, die Tatsache unseres eigenen Todes zu akzeptieren und sich dem Göttlichen anzuvertrauen.

Was gab es sonst noch vor oder nach Corona? Kurz vor Beginn der Epidemie konnte Ende 2019 John Neumeiers Version vom Tennessee Williams Glasmenagerie uraufgeführt werden. Alina Cojcaru hatte ihre Rolle als gehbehinderte, nach ein wenig Hoffnung auf Liebe sich diese versagend und sich ihren Glastieren widmende Laura Rose Wingfield gefunden.

Die Glasmenagerie: Alina Cojocaru, Félix Paquet, Edvin Revazov, und Patricia Friza (Fotos: Kiran West)

Patricia Friza zeigte nach ihrer großartigen Dolly in Anna Karenina als Lauras Mutter Amanda Wing­field wieder eine erinnerungswürdige Leistung. Die Rolle des sich in der Familie eingeschlos­sen fühlenden Tom Wingfield war Félix Paquet wie auf den Leib geschrieben, auch zeigte Christopher Evans als von Tom und von Laura begehrter Jim O’Connor eine schöne, sich der Ambivalenz seiner Funktion bewusste Leistung, nicht zu vergessen Edvin Revazov als Alter Ego des Dichters.

Man möchte meinen, diese sehr intime Handlung lässt keine größeren Ensembles zu. Das ist nicht der Fall, so gibt es auch hier Männergruppen, welche u.a. die monotone Arbeit in einer Schuhfabrik zu einem kleinen tänzerischen Ereignis werden lassen oder einen von Neumeiers Tänzerinnen unter der Leitung von Yu-Sun Park in Erinnerung bleibenden visualisierten Part, genannt Schreibmaschinenkurs.

Die Glasmenagerie: Schreibmaschinenkurs (Foto: Kiran West)

Dr. Ralf Wegner, 16. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Als nächstes „John Neumeiers choreographische Inspiration lässt auch im neunten Lebensjahrzehnt nicht nach, unverändert gelingen ihm großartige Meisterwerke“ am 19. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburger Ballett unter John Neumeier, Teil I Staatsoper Hamburg, 15. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II Staatsoper Hamburg, 19. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III Staatsoper Hamburg, 22. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V Staatsoper Hamburg, 5. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI Staatsoper Hamburg, 9. Januar 2024

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VII Staatsoper Hamburg, 12. Januar 2024

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