Foto: Sol Gabetta und Edward Gardner © Dr. Andreas Ströbl
Musik- und Kongresshalle Lübeck, 18. Juli 2023
Sol Gabetta & London Philharmonic Orchestra – Konzert im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals
Thomas Adès, „Three-piece Suite” aus der Oper „Powder Her Face”
Edward Elgar, Cellokonzert e-Moll op. 85 und Symphonie Nr. 1 As-Dur op. 55
Sol Gabetta, Cello
Edward Gardner, Dirigent
London Philharmonic Orchestra
von Dr. Andreas Ströbl
Es gibt sie sicher reichlich, die Vergleiche und Wortspiele, zu denen Sol Gabettas Name inspiriert, aber das Konzert mit dieser Cello-Sonnenkönigin am 18. Juli in Lübeck war tatsächlich ein erneuter strahlender Höhepunkt in der Geschichte des Schleswig-Holstein Musik Festivals.
Doch der Reihe nach: London als Fokusthema des diesjährigen Festivals vertraten an diesem Abend musikalisch der Zeitgenosse Thomas Adès und der neben Purcell und Britten berühmteste Komponist der Insel, Edward Elgar. Glanzvoll umgesetzt wurde das Konzert vom London Philharmonic Orchestra unter seinem Chefdirigenten Edward Gardner.
Zuerst gab es die „Three-piece Suite” aus Adès’ Oper „Powder Her Face”, seinem sicher bekanntesten Werk. Der damals 24-jährige Tonsetzer kombinierte hier klassische Themen mit jazzigen Aspekten und Tanzmusik des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts.
Die „Ouverture“ ist ein witziges, beschwipst-stolperndes und torkelndes Stück mit Tango-Anleihen, dissonanten Härten und Glissando-Rutschern. Den kommenden Katzenjammer ahnt man schon – im Gegensatz dazu verraten die lächelnden Gesichter der Musikerinnen und Musiker, welchen Spaß sie an der Sache haben. Der Titel des zweiten Teils, „Waltz“, verrät zwar, dass es hier auch um den ¾-Takt geht, aber seinem Hang zu Brüchen getreu streut Adès auch auf diesen Tanzboden manche Kieselsteine, die Geigen zirpen und zwitschern, Flöten und Holzbläser bilden humorige Kontraste. Manchmal hat man Kurt Weill im Kopf, der diese musikalische Posse sicher gemocht hätte. Versuche, leichtfertig zu sein, machen Drohungen aus der Tiefe zunichte. Im „Finale“ lädt Adès erneut zu einem Tango, wiederum mit heftigen Rhythmus-Stolperern und humorigen Ausrutschern.
Gardner ist ein ungemein sympathischer Dirigent mit einer zackigen Eleganz und geschmeidigen, ausgreifenden Bewegungen. Auffällig ist, dass er bei seinen Auf- und Abtritten stets durch das Orchester hindurch- und nicht davor einhergeht, was das fühlbar herzliche Miteinander von Mitwirkenden und Leiter unterstreicht.
Ja, und dann geht die Sonne auf! Die Verbindung aus kaum fassbarem Können, bezaubernder Ausstrahlung und mitreißender Spielfreude macht Auftritte von Sol Gabetta zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Elgars aufwühlendes Cellokonzert ist ein Monument von Tragik und tiefen Emotionen. Wer den Film „Vier Saiten“ kennt, weiß, was es heißt, um die vollendete Darstellung dieser sehr persönlichen Tonsprache zu kämpfen. Nun, Sol Gabetta muss keinen Kampf austragen; sie kennt jede Note des Konzerts in all ihren Facetten und Spielmöglichkeiten.
Bereits die ersten Töne des Adagio verursachen einen Gänsehaut-Schauer; die Cellistin ist völlig versunken in ihr hingebungsvolles Spiel, um dann wieder lächelnd aufzutauchen und in Interaktion mit Dirigent und Orchester zu treten. Ihr Vibrato ist gemessen und dient einzig dem Ausdruck von Klage und Verzweiflung, dann wieder aufstrebender Zuversicht.
Sie schafft Klänge voller Liebreiz und Innigkeit, um diese dann mit einer harten Schroffheit zu konfrontieren. Manchmal ist es, als zöge sie die Töne wie gequälte Seelen aus dem Bauch ihres Instruments heraus, um sie dann in eine ungewisse Freiheit zu entlassen.
Das Orchester ist phantastisch und dominiert trotz seiner Stärke niemals die Solistin. Harte, brutal schnelle Blechbläser-Kanten setzen die Londoner unglaublich akkurat und treffsicher um; da ist kein hörbarer Ansatz nötig und in kaum messbaren Sekundenbruchteilen verstummt das Blech-Tutti wieder. Gerade im zweiten Satz ist die beunruhigende Erregung greifbar.
Sol Gabetta changiert ständig zwischen einer mädchenhaften Leichtigkeit, ja kokettem Charme und dem Ausdruck tiefster existentieller Krisen. Kopf und Körper wiegt sie keck und anmutig hin und her, was aber völlig organisch wirkt; es geht einzig um die Musik und das wunderbar herzliche Miteinander derer, die sie erblühen lassen.
Im Adagio des dritten Satzes beweist sie, dass ihr Cello innerhalb des Orchesters wie die Seele eines komplexen Wesens zu leben und schweben vermag, gerade in den Piano-Stellen erfüllt den Raum eine delikate Zartheit in unüberbietbarer Schönheit des Klangs.
Der Finalsatz greift in seiner Düsternis thematisch den Kopfsatz auf, aber fasst sich auch in ernster Haltung. Sol Gabettas Cello ergießt die Melodien wie flüssiges Gold in den Saal, sie bleibt dabei aber immer deutlich und widmet sich gebührend jedem Ton. Zum Schluss hin lässt der Komponist einen Hoffnungsschimmer aufblitzen, den Solistin und Orchester in einen glutvollen Lichtstrahl verwandeln.
Der begeisterte, nicht enden wollende Applaus mit stehenden Ovationen veranlasst Sol Gabetta, den Lübeckern zwei Zugaben zu schenken. Zuerst gibt es Elgars „Sospiri“, ein lyrisch-sehnsuchtsvolles Stück voll fließender Weichheit, dann den Klagegesang „Dolcissimo“, den ersten Satz aus der Komposition „Das Buch“ von Pēteris Vasks, von ihr selbst begleitet mit schöner Sopranstimme.
Tatsächlich hätte man die buchstäbliche Stecknadel fallen hören können, so still-ergriffen ist das Publikum. Lediglich zweimal im Cellokonzert müssen irgendwelche Gegenstände umgeschmissen werden und in der ersten Reihe des Orchesterrangs liegt ein junger Mann eher, als dass er sitzt. Wüsste er, dass er in seiner Sofa-Breitbeinigkeit wie auf dem Präsentierteller fläzt, würde er sich beim nächsten Mal sicher anders gerieren.
Nach der Pause fällt auf, dass ein Teil des Publikums nur für Sol Gabetta gekommen ist. Das ist einerseits nachzuvollziehen, aber die Leute wissen ja nicht, was ihnen entgeht.
Warum hört man Elgars Symphonien nicht öfter, überhaupt seine anderen Werke und nicht ewig „Pomp and Circumstance“? Seine erste Symphonie ist ein machtvolles, in Abschnitten gar imperiales Werk von spätromantischer Größe. Man hört heraus, dass Elgar seinen Wagner, Bruckner und Mahler studiert hat, aber das Werk ist völlig eigenständig und von selbstbewusster Tonsprache. Gustav Mahler verwandt ist sicher der reizvolle Wechsel in den Stimmungen, Tonfarben und der Kombination von tiefen Emotionen und volksmusikalischen Aspekten. Allerdings gibt es in dieser Musik keine wirklichen Katastrophen und Abgründe. „Britisch“ dem Klischee nach ist sie aber keinesfalls, so warm und seelenvoll fließt breit der Klang.
Das trifft auch auf die Ausführenden zu, denn wiederum wird die Harmonie zwischen Dirigent und Orchester spürbar, die die stürmische Bewegung mit Verve jenseits aller angeblichen englischen Kühle wiedergeben. Die Größe des Klangkörpers entspricht der feierlich aufragenden Monumentalität, die immer wieder durch lichte Farben aufgehellt wird, als würde Sonnenlicht durch das Laub der Bäume bewegte Tupfer auf den Boden malen.
Gerade der erste Satz weiß von der Verletzlichkeit des Seins, bleibt aber stolz und unerschütterlich. Im Folgesatz entsteht oft eine gehetzte Dynamik und im mehrfach anklingenden Marsch dröhnen fühlbar die Dielen der Halle. Das erinnert an einen Trauermarsch, aber dazu ist er zu scharf und dynamisch angezogen. Wiederum völlig unbritisch sind eher böhmisch klingende Weisen mit güldenen Klangblumen, die der Konzertmeister virtuos aufblühen lässt.
Thomas Mann hat einmal von seinem Werk gesagt, er wünsche sich, „daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß“. Das trifft auch auf diese Symphonie zu, deren zweiter Satz gleich in den dritten übergeht. Manches wirkt wie die Erinnerung an einen geliebten Menschen oder frühere Größe, ohne in der Trauer zu versinken. Trost klingt immer wieder hindurch, auch eine sensible Zartheit, sangbar kommen manche Melodien daher.
Der Finalsatz beginnt in düsterer Stimmung, Bratschen und Blech entwerfen eine drohende, fordernde Atmosphäre. Rhythmisch ist das alles hochanspruchsvoll, was die Londoner glänzend umsetzen. Schließlich erhebt sich wie ein göttlicher Triumphwagen aus dunklen Wolken das „Nobilmente“-Thema und dominiert die Szene in strahlendem Glanz.
Erneut reißt es die begeisterten Lübecker von den Plätzen und als Zugabe gibt es den bekannten, aber hier so frisch wie nie gehörten „Nimrod“ aus den „Enigma-Variationen“.
Was für ein Glück, so etwas erleben zu dürfen!
Dr. Andreas Ströbl, 20. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at