von Peter Sommeregger
Im Jahr 1958 veranstaltete das Moskauer Konservatorium zum ersten Mal den Tschaikowsky-Wettbewerb, der seither alle vier Jahre stattfindet. Der Sieg des jungen amerikanischen Pianisten Van Cliburn im Fach Klavier bedeutete eine weltweit Aufsehen erregende Sensation. Die beiden Supermächte befanden sich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, Van Cliburns Gewinn des ersten Preises wurde als Symbol für den Sieg der Kunst über die Politik gewertet und katapultierte den am 12. Juli 1934 geborenen jungen Pianisten in die erste Reihe der Konzertpianisten.
Vorausgegangen war ein langjähriges Studium bei Cliburns Mutter, die ihrerseits Schülerin eines Liszt-Schülers gewesen war. Im Alter von 17 Jahren beginnt er ein Studium an der renommierten Juilliard-School in New York, konzertiert aber bereits während seiner Studienjahre mit namhaften Orchestern.
Nach dem Gewinn des Moskauer Preises, der für den Pianisten den endgültigen Durchbruch bedeutete, entstanden zahlreiche Schallplatten mit so berühmten Orchestern wie dem Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner und dem Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy. Seine Einspielung des 1. Klavierkonzertes von Tschaikowsky verkaufte sich als erste Klassik-LP überhaupt mehr als eine Million Mal. Dirigent der Aufnahme war Kirill Kondrashin, der auch bei Cliburns Sieg in Moskau am Pult gestanden hatte. Das Label RCA Victor vermarktete seinen neuen Star nach Kräften, zahlreiche Konzerte wurden mitgeschnitten, vor allem jene in Moskau, wo er seit dem Wettbewerb ein häufiger und umjubelter Gast war. Fast alle von Cliburns dortigen Auftritten sind auch auf Video dokumentiert.
Einen lange gehegten Wunsch erfüllte sich Cliburn 1962 mit der Gründung eines nach ihm benannten Klavierwettbewerbes in Fort Worth, Texas, wo Cliburn seinen Wohnsitz hatte. Er findet seither alle vier Jahre statt.
Im Zuge seiner exzessiven Konzerttätigkeit machte sich beim Pianisten ab dem Ende der 60er Jahre eine gewisse Erschöpfung bemerkbar. Kritikern fiel ein Nachlassen seiner Technik auf, sein Repertoire erschöpfte sich in immer weniger Stücken. Hört man Cliburns Aufnahmen kritisch, so fehlt seinem Spiel stellenweise bei aller technischen Brillanz die intellektuelle Durchdringung des jeweiligen Stückes, das Ausstellen seiner Technik gerät vereinzelt zur reinen Effekthascherei.
Die Marotte, jedes Konzert mit der amerikanischen Hymne zu beginnen trägt ihm den Ruf eines Sonderlings ein. Versuche, in dieser Zeit eine Laufbahn als Dirigent zu beginnen, scheitern. Ende der 1970er Jahre zieht sich Cliburn zurück und gibt keine Konzerte mehr. Erst zehn Jahre später kehrt er wieder auf das Konzertpodium zurück, kann aber nicht wirklich an seine alten Erfolge anknüpfen.
Im Jahr 2012 erkrankt der Pianist an Knochenkrebs, dem er am 26. Februar 2013 erliegt. Seine zahlreichen Schallplatten, fast ausschließlich in den ersten Jahren seiner internationalen Karriere entstanden, sind interessante Dokumente seiner phänomenalen Technik, die aber leider keine Entsprechung in der Vertiefung seiner Interpretation finden. Es ist mehr die nachwirkende Sensation seines Wettbewerb-Gewinnes 1958 in Moskau, die seinen Nachruhm bedingt.
Peter Sommeregger, 13. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.
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