Bild: Arnold Schönberg: Alban Berg, um 1910
von Peter Sommeregger
Als ich mich spätestens in meiner Gymnasiastenzeit unheilbar mit dem Opernvirus infizierte, lebte ich noch in Wien, und die Wiener Staatsoper mit ihren billigen Stehplätzen wurde zum bevorzugten Ort meiner Freizeitgestaltung. Mehr noch als heute war in den 1960er Jahren das Repertoire des Hauses schier unerschöpflich, als relativer Anfänger konnte man im Rahmen von nur einer Spielzeit eine ganze Reihe von Werken kennenlernen.
Geprägt wurden diese Aufführungen in erster Linie von den Sängern, die Pultstars wie Herbert von Karajan und Karl Böhm konnte man eher selten antreffen, aber die Wiener Oper verfügte damals über eine ganze Reihe von erstklassigen Kapellmeistern wie Swarowsky, Hollreiser, Klobučar, um nur einige zu nennen. Die Regie spielte damals noch eine sehr untergeordnete Rolle, sie sorgte für überschaubare Tableaus, welche die Sänger nicht zu physischen Kraftakten nötigten, stellten die Werke in ihrer Zeit und an ihrem Ort dar und waren durch logische Auf- und Abgänge bestens für gastierende Sänger geeignet. Relikte aus dieser Zeit haben sich bis heute im Repertoire erhalten, so die legendäre Tosca-Inszenierung Margarethe Wallmanns, die weit über 50 Jahre allen bedeutenden Sängerinnen der Titelrolle als perfektes Vehikel diente.
Zu meinen besonderen Lieblingen zählte damals das (noch) Sängerehepaar Christa Ludwig und Walter Berry. Als diese eines Tages in einer Wiederaufnahme des „Wozzeck“ von Alban Berg die Hauptrollen sangen, besuchte ich trotz einiger Warnungen diese Aufführung. Berg gehörte zum Kreis der Schüler Arnold Schönbergs und benutzte für seine Kompositionen dessen Zwölftontechnik. Das war für mein an Mozart, Verdi und Wagner gewohntes Ohr erst mal eine Herausforderung, aber Bergs äußerst stringente Umsetzung des Büchner’schen Dramas faszinierte mich. Berg macht es seinen Hörern nicht allzu schwer, weil er geschickt tonale Elemente in seine Musik einbringt, im „Wozzeck“ sind es die Lieder der Marie und der Tanz in der Kneipenszene. Spätestens beim bohrenden Crescendo der Streicher nach dem Mord an Marie war ich für das Werk gewonnen, bis heute habe ich es in zahlreichen Inszenierungen immer wieder gehört.
Ich erinnere mich gut an eine besondere Veranstaltung in Wien Mitte der 60er Jahre. Die Deutsche Grammophon hatte in Berlin eine Gesamtaufnahme des „Wozzeck“ unter Karl Böhm mit Dietrich Fischer-Dieskau und Evelyn Lear produziert, was damals noch als Wagnis galt. Im Rahmen einer Veranstaltung wurde diese Einspielung einem geladenen Publikum auf einer hervorragenden Stereo-Anlage vorgespielt. Als Ehrengast wohnte diesem Ereignis Helene Berg, die Witwe des Komponisten, bei. Ich sehe heute noch die elegante weißhaarige Dame vor mir, die angeblich eine leibliche illegitime Tochter Kaiser Franz Josephs war.
Bergs zweite Oper „Lulu“ hat der Komponist bei seinem frühen Tod 1935 unvollendet hinterlassen. In dieser Form wurde sie 1937 in Zürich uraufgeführt, weitere Aufführungen im Deutschen Sprachraum waren wegen des Verbots von Bergs Musik durch die Nazis vorerst nicht möglich.
Bergs Heimatstadt Wien musste auf die szenische Uraufführung bis 1962 warten. Im Rahmen der Wiener Festwochen 1962 inszenierte Otto Schenk die Oper im Theater an der Wien. Karl Böhm dirigierte die hochkarätige Besetzung, die mit dem Tenor Rudolf Schock und dem Bassisten Paul Schöffler Altstars, mit der Amerikanerin Evelyn Lear eine Newcomerin enthielt. Für Evelyn Lear war diese Aufführung das Sprungbrett für eine sich anbahnende Karriere. Die Aufführung wurde geradezu hymnisch rezensiert und markierte die endgültige Aufnahme dieser Oper in das internationale Repertoire. Otto Schenk inszenierte 1968 dann auch die Erstaufführung an der Wiener Staatsoper mit der fulminanten Anja Silja, die später in dieser Produktion auch die Rolle der Gräfin Geschwitz übernahm.
Wenn ich diese großartigen Aufführungen in Gedanken rekapituliere, wundert es mich nicht, dass ich frühzeitig einen Zugang zu Bergs Musik fand. Vor einigen Jahren veröffentlichte Arthaus ein Video der Lulu-Aufführung von 1962. Zu meiner großen Freude konnte ich feststellen, dass keineswegs die Erinnerung daran verklärt war, auch Jahrzehnte später überzeugte die musikalische und szenische Qualität auf der ganzen Linie.
Peter Sommeregger, 8. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.
Sommereggers Klassikwelt 74: Alban Berg – musikalischer Traditionalist und Neuerer
Alban Berg, Wozzeck, Oper in drei Akten (15 Szenen), Wiener Staatsoper, 27. März 2022
Vielen Dank, Herr Sommeregger, für dieses Zurechtrücken der Bedeutung Alban Bergs hier auf Klassik-begeistert.
Mit freundlichen Grüßen
Karl Rathgeber