Sommereggers Klassikwelt 176 : Kastraten, die wie Engel singen, zahlten einen hohen Preis

Sommereggers Klassikwelt 176 : Kastraten, die wie Engel singen, zahlten einen hohen Preis  klassik-begeistert.de, 8. März 2023

von Peter Sommeregger

Als am 21. April 1922 in Rom der Sänger Alessandro Moreschi starb, ging mit seinem Tod eine jahrhundertealte Tradition endgültig zu Ende. Er war der letzte Sänger gewesen, der durch Kastration seinen Knabensopran behalten hatte, seine Stimme ist uns auf Schallplatten erhalten, die 1902 aufgenommen wurden und das ganz eigene Timbre bewahrt haben, das wohl für Kastraten typisch war.

Die Blütezeit für die Stimmen der Kastraten war zweifellos das 18. Jahrhundert, die Barockoper mit ihrem halsbrecherischen Ziergesang verlangte nach solchen Stimmen, das zeitweilige Verbot, Frauen öffentlich auftreten zu lassen, tat ein Übriges. Gut ausgebildete Sänger dieser Stimmlage erhielten traumhafte Gagen, was manche arme Familien ermunterte, ihre Söhne vor der Pubertät dem Messer des Chirurgen auszuliefern, was aber noch keine Garantie für eine Karriere war. Italien war das Land, in dem diese Praxis am häufigsten geübt wurde.

Der wohl berühmteste Vertreter seiner Zunft war der 1705 bei Neapel geborene Farinelli, der eigentlich Carlo Broschi hieß. Sein Ruhm, der vielfach literarisch, aber auch durch seriöse Biographien überliefert ist, übertraf wohl noch bei weitem den heutigen Hype um einige aktuelle Gesangsstars. Die Grausamkeit, die aber solchen Karrieren vorausging, wurde damals komplett ausgeblendet, man schwärmte sogar verniedlichend von dem „Messerchen“ und pries seine Wirkung. Zwar bedeutete die Kastration nicht unbedingt einen völligen Verlust der Sexualität, zu Außenseitern waren diese Sänger aber in jedem Fall geworden.

Alessandro Moreschi wurde 1858 geboren, und dürfte in den 1860er Jahren dem Eingriff unterzogen worden sein, zu dieser Zeit hatten bereits die Tenöre die Herrschaft über die Opernbühnen gewonnen, auch passte die mutwillige Verstümmelung nicht mehr in die aufgeklärte Zeit.

 

 

 

Heinrich Heine verdanken wir ein Gedicht, in dem es über die Kastraten heißt:

Und lieblich erhoben sie alle
Die kleinen Stimmelein.
Die Trillerchen, wie Krystalle,
Sie klangen so fein und rein.

Bartolomeo Nazarie – Portrait of Farinelli 1734 – Royal College of Music London

Speziell für Kastraten geschriebene Partien besetzte man in der Folgezeit wechselweise mit Sopranen, Altistinnen und Tenören, wobei klar war, dass dies nur unzureichenden Ersatz darstellte. Erst die historisch informierte Aufführungspraxis Alter Musik fand den Weg zurück zu Stimmtechniken, die dem Klang der Kastraten wohl sehr nahe kommen. Es ist erfreulich und erstaunlich zugleich, wie innovativ diese Szene heute darin ist, längst verlorene Werke und Komponisten wie z.B. Leonardo Vinci ihrem Dornröschenschlaf zu entreißen, weil man wieder über die erforderlichen Stimmen verfügt.

Wir wissen nicht, wie Farinelli und seine Zeitgenossen geklungen haben, aber die Virtuosität, welche die derzeit besten Countertenöre erreichen, kann nicht mehr weit davon entfernt sein. Neuerdings drängen auch Sopranisten in die Opernszene, deren Stimmlage durch ausgebliebenen Stimmbruch entstanden ist. In einzelnen Fällen meint man tatsächlich, Engelstimmen zu hören.

Vorwärts in die Vergangenheit, möchte man sagen!

Peter Sommeregger, 8. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.

Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.

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