Beim diesjährigen Berliner Musikfest fanden die Liederabende des Baritons Georg Nigl und der Sopranistin Marlies Petersen vor jeweils halb leerem Saal statt. Das nicht anwesende Publikum wird nie erfahren, welche Fülle an musikalischer Schönheit und intimer Gestaltungskunst es versäumt hat!
von Peter Sommeregger
Der Kampf der seriösen Konzertkultur gegen die Event-
(Un-)kultur hat schon ein prominentes Opfer gefordert: den klassischen Liederabend.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte diese Konzertform durch Künstlerpersönlichkeiten wie Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf und Hermann Prey eine neue Hochblüte. Liederabende dieser, und auch anderer Künstler waren zumeist schon unmittelbar nach ihrer Ankündigung ausverkauft. Kein Musikfestival wie die Wiener Festwochen, die Salzburger Festspiele, die Münchner Opernfestspiele wäre ohne Liederabende in ihrem Programm denkbar gewesen. Der unvorstellbar große Schatz an Lied-Literatur bot den Sängern ein reiches Feld für Entdeckungen und kreative Zusammenstellungen für solche Abende, und das Publikum fühlte sich reich beschenkt.
Sicher, auch heute finden noch Liederabende statt. Auffällig ist dabei aber neben ihrer stark reduzierten Zahl die zunehmende Verweigerung der Spitzensänger. Ein Jonas Kaufmann beispielsweise, der in der Vergangenheit eindrucksvoll bewiesen hat, wie schön und klug er Schubert-und Strauss-Lieder zu interpretieren vermag, hat sich längst lukrativeren Konzertformen zugewandt. Nach einem zunehmend ermüdenden Muster promoted er seine jeweils neueste CD mit kräftezehrenden Event-Auftritten, deren überbordende Zahl ihm zusehends die Kraft für ernsthaftere Aufgaben nimmt.
Der so genannte Lieder-und Arienabend, der bei populären Sängern an die Stelle des klassischen Liederabends getreten ist, stellt nur eine schlechte Karikatur des ersteren dar. Nach Art eines Radio-Wunschkonzertes werden einige beliebte Arien, volkstümliche Lieder und zur Schonung der Sängerstimme und Streckung des Programms eine Reihe von verzichtbaren Opern-Intermezzi präsentiert. Auch KünstlerInnen im Spätherbst ihrer Karrieren können ein solches Programm noch bestreiten und größere Säle oder gar Hallen füllen. Einem nach der Fülle des Liedschaffens eines Schuberts, Hugo Wolfs, Gustav Mahlers oder Richard Strauss‘ verlangendem Publikum können solche zweitklassigen Events nichts bieten.
Es gibt natürlich auch erfreuliche Ausnahmen von dieser Entwicklung. Der Bariton Christian Gerhaher hat sich über die Jahre zum derzeit vielleicht besten Liedsänger deutscher Zunge entwickelt. Leider wird er zusehends zum Opfer des eigenen Erfolges, tourt rastlos durch die Konzertsäle der Welt und verwandelt sich mit seiner überbordenden intellektuellen Durchdringung der Liedtexte mehr und mehr in einen Wiedergänger Fischer-Dieskaus.
Viele SängerInnen machen um den Liedgesang aber auch einen Bogen, weil ihnen bewusst ist, dass beim Sologesang mit Klavier alle Schwächen einer Stimme wie in einem Brennglas hörbar werden. Das Lied verlangt außerdem eine ganz spezielle Vortragskunst, viele erzählen eine Geschichte, die pointiert vorgetragen werden muss. Geniale Liedbegleiter wie Helmut Deutsch oder Wolfram Rieger könnten dabei jungen Künstlern hilfreich sein.
Der Niedergang klassischer Liederabende scheint auch in der Wirtschaftlichkeit dieser Konzertform zu liegen. Kaum ein Sänger kann heute noch mit einem anspruchsvollen Liedprogramm auch nur mittlere Konzertsäle füllen, Ausnahmen wie Gerhaher bestätigen nur die Regel. Beim diesjährigen Berliner Musikfest fanden die Liederabende des Baritons Georg Nigl und der Sopranistin Marlies Petersen vor jeweils halb leerem Saal statt. Das nicht anwesende Publikum wird nie erfahren, welche Fülle an musikalischer Schönheit und intimer Gestaltungskunst es versäumt hat!
Peter Sommeregger, Berlin, 25. September 2019
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de .