„Es existiert ein tief berührendes Video von diesem Abschiedskonzert, bei dem sie am Ende Schuberts An die Musik vorträgt. Ihr „Du holde Kunst, ich danke Dir dafür“ erklingt mit einer solchen Inbrunst, die einen ahnen lässt, wie sehr die Musik sie für ihr körperliches Gebrechen entschädigt hat.“
von Peter Sommeregger
An diesem 29. Januar könnte man den 95. Geburtstag der kanadischen Sopranistin Lois Marshall begehen, die allerdings leider bereits 1997 gestorben ist. Ich will aber diesen Gedenktag zum Anlass nehmen, an sie zu erinnern.
1925 in Toronto geboren, das auch zeitlebens ihr Wohnsitz bleiben sollte, entschloss sie sich schon frühzeitig für ein Musikstudium. Schon als Kind war sie an Polio erkrankt, was ihre Auftrittsmöglichkeiten während ihrer gesamten etwa 40 Jahre dauernden Karriere erheblich einschränken sollte. Entmutigen ließ sie sich dadurch nicht.
Ihr Ruf als Konzertsängerin kam schließlich auch Dirigenten wie Arturo Toscanini und Sir Thomas Beecham zu Ohren, die sie daraufhin für Schallplattenaufnahmen engagierten. Bei der Probe zur Aufnahme der Missa Solemnis von Beethoven erschien sie ohne Noten, konnte Toscanini aber schnell beweisen, dass sie das gesamte Werk auswendig singen konnte.
Auch den gestrengen Beecham beeindruckte sie so sehr, dass er sie als Konstanze für seine Platteneinspielung der Entführung aus dem Serail wählte. Die Aufnahme ist nach wie vor auf dem Markt und ist ein hervorragendes Beispiel für die Standards einer immer mehr schwindenden Gesangskultur.
Marshalls Domäne wurde aber naturgemäß der Konzertgesang und das Kunstlied. Von Kanada aus eroberte sie sich über die Jahre bei zahlreichen Tourneen ein internationales Publikum. Legendär sind ihre insgesamt acht Tourneen durch Sowjetrussland währen der Hochblüte des Kalten Krieges. Das russische Publikum lag ihr zu Füßen und schnitt mehr oder minder legal ihre Konzerte mit.
Waren Marshall Auftritte auf der Opernbühne kaum möglich, versuchte man doch mit verschiedenen Tricks, sie doch zu ermöglichen. In einer frühen Fernsehproduktion von Brittens Peter Grimes übernahm sie die Ellen Orford und sang weitgehend im Sitzen. Ihre Liebe zur Oper ist auch in zahlreichen Aufnahmen von Arien und Szenen dokumentiert, ihre bedeutendsten Leistungen erbrachte sie aber wohl im Liedgesang. Ihre Textbehandlung war dabei auch im Deutschen so perfekt, dass man sie für eine Muttersprachlerin hätte halten können.
Wunderbare Beispiele für ihre Interpretationskunst sind verschiedene Videoclips, in denen sie mit Glenn Gould am Flügel zu erleben ist, auch darüber hinaus existieren zahlreiche Live-Aufnahmen von ihr. Die Missa Solemnis und die Entführung aus dem Serail sind leicht zu bekommen, ihre diversen Recitals schon schwerer, aber der Versuch lohnt sich. Die Bandbreite ihrer Interpretationen war enorm: Sang sie ursprünglich auch Arien der Königin der Nacht, wandelte sie sich vom Koloratursopran zum jugendlich-dramatischen Sopran, in ihren letzten aktiven Jahren sogar noch zum Mezzosopran.
Ab 1976 wirkte sie als Gesangspädagogin an der Universität von Toronto, ihre Karriere gab sie erst Mitte der 80er-Jahre auf. Es existiert ein tief berührendes Video von diesem Abschiedskonzert, bei dem sie am Ende Schuberts An die Musik vorträgt. Ihr „Du holde Kunst, ich danke Dir dafür“ erklingt mit einer solchen Inbrunst, die einen ahnen lässt, wie sehr die Musik sie für ihr körperliches Gebrechen entschädigt hat. In Kanada ist Marshall bis heute eine Ikone des Gesangs. Auch hierzulande sollte man sich dankbar an sie erinnern, denn jedes Hören ihrer unverwechselbaren, glockenreinen Stimme bereitet Freude.
Peter Sommeregger, 28. Januar 2020, für
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de .