von Peter Sommeregger
Vor drei Wochen, am 30. Juni 2020, starb die weltberühmte Geigerin Ida Haendel im amerikanischen Miami im 92. Lebensjahr.
Bis ins hohe Alter konnte man der zierlichen Künstlerin auf den Konzertpodien der Welt begegnen. Stets in bunte Gewänder gehüllt, mit aufgetürmter Haarpracht und hohen Schuhabsätzen strahlte sie das Selbstbewusstsein einer reifen künstlerischen Persönlichkeit aus, die auch optisch ein Ausrufungszeichen setzte.
Der lange Lebensweg Haendels spiegelt zum Teil die Katastrophen und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts wieder. Am 15. Dezember 1928 im polnischen Chelm in eine jüdische Familie geboren, entwickelt sich das Mädchen schon ab ihrem dritten Lebensjahr zum Wunderkind im Geigenspiel, mit sechs Jahren beginnt sie ein reguläres Studium an der Warschauer Musikakademie. Der Vater wandert 1935 in weiser Voraussicht mit der Familie nach England aus. Dort wird Ida Haendel vom legendären Carl Flesch, später auch von George Enescu unterrichtet. Während der Kriegsjahre gibt sie Konzerte hauptsächlich vor britischen und amerikanischen Truppen. Erst nach 1945 beginnt ihre eigentliche Weltkarriere.
Der Schwerpunkt ihrer Konzerttätigkeit lag auf dem klassisch-romantischen Repertoire, mit den Konzerten von Beethoven, Brahms, Bruch und Mendelssohn feierte sie Triumphe, verschloss sich aber auch nicht der zeitgenössischen Musik. Lang ist die Liste der bedeutenden Dirigenten, mit denen die Haendel konzertierte. Eine besondere Verbindung bestand zwischen ihr und dem rumänischen Dirigenten Sergiu Celebidache. Es war wohl nicht nur eine künstlerische Beziehung, die sich allerdings privat nicht erfüllte. Ida Haendel hat nie geheiratet.
Zahlreiche Schallplattenaufnahmen haben die Virtuosität der Geigerin bewahrt. Mit Rafael Kubelik spielte sie die Violinkonzerte von Beethoven und Bruch ein, Aufnahmen die auch noch nach Jahrzehnten ihre Frische und Unmittelbarkeit bewahrt haben. Inzwischen sind diese Schallplatten und viele weitere Tondokumente in einer 10 CDs umfassenden Edition preiswert erhältlich, die mit einer ganzen Reihe auch kammermusikalischer Schätze aufwartet.
Live habe ich Ida Haendel leider nie erlebt, aber diese zumeist frühen Aufnahmen geben doch einen sehr starken Eindruck von der Brillanz und dem Charisma dieser Ausnahme-Musikerin, die eine wahre, vielsprachige Kosmopolitin war, am besten aber wohl die internationale Sprache der Musik beherrschte.
Haendel spielte eine Stradivari von 1696, zeitweise auch eine Guarneri. Aber auch Instrumente dieser Königsklasse „singen“ erst, wenn sie in die richtigen Hände gelangen. Was Ida Haendels Ton vor allem auszeichnete, war ein sehr weiblicher, femininer Ansatz. Überraschen nicht wenige Geigerinnen mit einem forschen, kräftigen, fast maskulin zu nennenden energischen Strich, meint man bei Haendel immer auch ihre Weiblichkeit heraus zu hören, was allen ihren Interpretationen einen besonderen Stempel aufdrückt.
Menschen die sie kannten, beschreiben die Künstlerin als menschenfreundlich, zugewandt und offen. Auch als Pädagogin hat Haendel gewirkt, ein prominenter Schüler ist David Garrett, auf den sie große Stücke hielt. Auf einigen Youtube-Clips kann man ihr Spiel, aber auch ihre prägnante Persönlichkeit anschaulich erleben. Ein prominenter Platz in der Hall of Fame der bedeutendsten Geiger ist ihr sicher.
Peter Sommeregger, 21. Juli 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sommereggers Klassikwelt 44 : Schwesterliche Doppelbegabungen
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.
Beitragsbild: Jellepieterdeboer / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)