Zeitgenössische Musik des ensemble oktopus in München: Ist das ein Ton? Woher kommt er? Ich verdächtige die Tuba

Soundpainting – ensemble oktopus  Reaktorhalle, München, 12. Januar 2024

ensemble oktopus, Soundpainting © Gregory Giakis

Reaktorhalle, München, 12. Januar 2024

Soundpainting – ensemble oktopus

von Frank Heublein

An diesem Abend wird in der Reaktorhalle, einer Aufführungsstätte der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM) das Programm „Soundpainting“ aufgeführt. „Wie schön“, freue ich mich, „der Saal ist fast komplett gefüllt.“

Zu Beginn wird Peter Ablingers »Weiss/Weisslich 4« für Klavier und Ensemble aufgeführt. Der Komponist stellt sich mit der Komposition die Frage, wo die Grenze zwischen Stille (Weiss) und fast Stille (Weisslich) liegt.

Zur auf dem Flügel mit einem Finger gespielten Tonleiter und vor dem Bild Kasimir Malewitschs „Blaues Quadrat“ höre ich, aber nur wenn ich genau hinhöre, das Mitsehen hilft mir sehr, vom über alle Ecken verteilten Ensemble Luftströme, Klappen, ein Mundstückton, den Streicherbogen ans Instrumentenholz schlagen, vereinzelte Tonstöße des Saxophons. Das mit dem Finger steht in der Partituranweisung, erklärt Leiter Armando Merino im Nachhinein. Wo kommt der kaum hörbare Klang, der Ton, das Geräusch her? Das Durchbrechen dieser einzelnen Klanghauche der monotonen Tonleiter birgt für mich überraschende Spannung.

Solist Christian Traute an der Posaune rahmt Mike Svobodas Etude Nr. 4 »Dampen« aus »Concert Etudes« mit eigenen Improvisationen, die er mittels Dubbing erzeugt. Die Improvisation am Ende klingt schon fast ein wenig ska-ig. Svobodas Stück kommt ohne elektronische Zusätze aus. Dafür erzeugt der Dämpfer von mir noch nie wahrgenommene Posaunenklänge. Was macht Christian Traute mit seinen Lippen da am Mundstück, dass das so läbbrig klingt, halb Ton, halb Geräusch? Das Rätsel bleibt mir ungelöst. Die Posaune ächzt und wummert gleich darauf warm weich ausgedehnt, so kurz und abgehackt, dass ich dem Ton nachhören will.

ensemble oktopus, Soundpainting © Gregory Giakis

Als nächstes spielt Sarah Luisa Wurmer das Altai Yatga. Ein vergleichsweise kleines mongolisches Instrument mit 6 harfenähnlich klingenden und angeordneten etwa 30 cm langen stimmbaren Saiten und Perkussionsflächen. Es steht auf einem Tischchen vor der Musikerin. Ihr Mitkommilitone Maksim Liakh hat für sie »Kies, Fluss, Tröpfe« komponiert. Ihre Stimme, singt sie teilweise im Obertonbereich?, ist die dritte tonale Quelle neben dem mongolischen Kombiinstrument. Die Reaktorhalle ist so still, dass ich jeden einzelnen Fingertipp auf die Perkussionsfläche als laut empfinde. Ich finde es faszinierend, wie die vereinzelten Töne und Saitenstreiche eine kontemplative konzentrierte Ruhe in mir erzeugen.

ensemble oktopus, Soundpainting © Gregory Giakis

Maksim Liakh hat Vladimir Tarnopolskys Komposition »Kandinsky-Klangschiffen« noch eine improvisatorische Introduktion verpasst. Der Komponist lehrt an der HMTM. Das eingeblendete Bild ist Kandinskys „Komposition 8“. Armando Merino ermutigt mich, zu entdecken, welche Klänge zu welchen Arealen im Bild passen. Ich finde einige, nicht alle. Spannend allemal wie die Streicher, der Flügel und die Bläser die Bildkompostion in mir lebendig werden lassen. Dynamische gerade und geschwungene Linien, explosive gefüllte Kreise, so klingt die Musik des kammermusikalisch aufgestellten Ensembles.

Leon Zmelty, der Komponist von »Wind« für Violine solo, ist ebenfalls anwesend. Ursprünglich hieß das Stück rûaḥ (רוּחַ). Das hebräische Wort bedeutet Wind, bewegte Luft und auch – heiliger – Geist. Letzterer hätte ihn begleitet bei der Komposition. Solistin Pauline Karuga wippt ausgeladen ihren Bogen über die Violine. Sie säuselt nicht, sie weht und haucht in Wellen. Sei dringt damit tief in mich hinein, in meinen Bauch, mein Herz.

Das letzte Stück des Abends ist ein modernes Schlüsselwerk der letzten 50 Jahre. Es entstammt der Feder des Komponisten Frederic Rzewski und heißt »Coming together/Attica«. Es entstand unter dem Eindruck des Gefängnisaufstandes 1971 im New Yorker Gefängnis Attica. Samuel Melville war Häftling und einer der Anführer des Aufstandes. Er wurde bei der Niederschlagung neben 42 anderen Personen getötet. Seine Briefe aus dem Knast wurden in Buchform postum veröffentlicht. So wurde Rzewski auf Melville aufmerksam und verarbeitet einige Briefstellen in seiner Komposition.

Minimal Music höre ich. Sich wiederholende Klangwellen des ensemble oktopus, Kelvin Hawthorne gesprochene Texte sind Teil der Partitur, er trägt rhythmisch vor, fügt sich ein in den Minimal Music Klangkreisel. Wie fast immer, wenn ich Minimal Music live höre, hypnotisiert mich diese.

ensemble oktopus, Soundpainting (c) Gregory Giakis

Ich spüre meine innere Spannung. Zwei Teile, zwei sehr verschiedene Klangwelten, die erste hart, robust und straff. Die zweite warm, weich und schmiegsam. Zu zwei Bildern, das erste zeigt Aufständische, das zweite einen langen Gefängnisgang mit zerstörten Einrichtungsgegenständen. Der Sog ist stark und konzentriert. Das kleine Ensemble füllt den Raum bis auf den letzten Kubikmeter mit Klang. Die Musiker erzeugen eine mich umgebenden Klanghülle, die ich mit Händen greifen will, so materiell fühlt sie sich an.

Wo bekomme ich herausragend interpretierte zeitgenössische Musik geboten? In den Aufführungen des ensemble oktopus der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM). Kostenlos. Mit Leidenschaft. Mit Präzision. Mit Professionalität.

Der 10. Mai 2024 ist schon markiert in meinem Kalender. Nächstes Konzert des ensemble oktopus. Luigi Nonos 100. Geburtstag wird unter anderem gefeiert. Ich freue mich schon auf die neuen Klangwelten, die ich entdecken darf.

Frank Heublein, 13. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Programm

»Soundpainting«

Peter Ablinger
»Weiss/Weisslich 4« für Klavier und Ensemble

Mike Svoboda
Etude Nr. 4 »Dampen« aus: »Concert Etudes« für Posaune solo

Maksim Liakh
»Kies, Fluss, Tröpfe« für Altai Yatga

Vladimir Tarnopolsky/Maksim Liakh
»Kandinsky-Klangschiffen«

Leon Zmelty
»Wind« für Violine solo

Frederic Rzewski
»Coming together/Attica«

Besetzung

ensemble oktopus

Mykola Kushnir, Saxophon
Tristan Seyb, Horn
Deniz Arda Basagur, Trompete
Hatsumi Kawazoe, Tuba
Nicole Ostmann, Violine
Dea Nicaj, Violine
Mia Foron, Violine
Julia Schuller, Violine
Ayaka Uchio, Violine
Amrei Bohn, Violoncello
Kim Sophia Reinhard, Klavier
Daniel Hendrichs, Klavier
Tony Sintow-Behrens, Klavier

Solisten und Solistinnen:

Christian Traute, Posaune
Sarah Luisa Wurmer, Altai Yatga
Pauline Karuga, Violine
Kelvin Hawthorne, Sprecher
Armando Merino, Leitung

Johann Strauß, Die Fledermaus Nationaltheater, München, 28. Dezember 2023

„Weihnachten in Cremona“, Ensemble Phoenix Mars-Venus-Saal im Bayerischen Nationalmuseum, München, 3. Dezember 2023

Leoš Janáček, Jenůfa Staatsoper Stuttgart, 12. November 2023

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