Foto: Barbara Hauter (Kontrabass), Petra Spelzhaus (Trompete)
von Dr. Petra Spelzhaus
Hilfe, ich brauche ein Dirndl! Vor sechs Jahren verschlug es mich als eingefleischte Bremerin in die ländliche Idylle Oberbayerns, nicht weit von Rosenheim. Ich ließ fast alles im Norden zurück: Meine Familie, meine Freunde, meine Arbeitsstelle, meine Wohnung im Bremer Szeneviertel, meinen hoch geschätzten Trompeten-Meister, meine Jazzcombo. Begleitet wurde ich von meiner Trompete, meinem äußerst launischen gelben Skoda und ein paar Möbeln, von denen ich mich nicht trennen mochte.
Was macht man als Nordlicht „Lost in Space“? Das, was ich daheim auch am liebsten gemacht habe: Musik! Kaum, dass ich das gelobte Land unter dem weißblauen Himmel betreten habe, suchte ich nach gleichgesinnten Jazzmusikern. Die Suche endete erst einmal im Nirwana. Aber da tat sich etwas anderes auf: Ich landete durch mehrere Zufälle zunächst in einem Jodelkurs, auf Musikabenden, wo bayerische Musik mit Klezmer verquirlt wurde, auf Bayerns größtem Volksmusikfestival „Drumherum“ im niederbayerischen Regen sowie als Publikum im Abschlusskonzert der Protagonisten des Films „Bavaria Vista Club“ auf einer sattgrünen Alm. Der Film zeigte diverse Musikgruppen, die ihre bayerischen Wurzeln unter anderem mit Mantras, türkischer Musik, Blues und Reggae mischten. Wer sich das schöne Werk von Walter Steffen auf DVD anschauen möchte, kann mich als etwas steif tanzende Komparsin mit rotweiß gestreifter Trachtenbluse bewundern.
Schließlich fand ich mich in der Blasmusik des örtlichen Trachtenvereins wieder. Als ich das bei einem meiner wenigen Heimatbesuche in Bremen meinem Trompeten-Meister beichtete, zeigte er sich entsetzt, wie ich den Jazz derart verraten könne. Dass er sich Jahre später hingegen begeistert darüber äußerte, dass ich Rhythmus-Legasthenikerin durch das ständige Nachschlagspielen bei den Polkas und Märschen eine ungeahnte rhythmische Sicherheit gewann, sei mal dahingestellt.
Ich brauchte also ein trachtentaugliches Dirndl und sah mich mit den ureigensten musikalischen Wurzeln Oberbayerns konfrontiert. Ein Höhepunkt war die Einladung ins Publikum der BR-Fernsehsendung Wirtshausmusikanten, wo mein Dirndl seinen nächsten Einsatz bekam. Bei der Sendung herrschte auch für die Zuhörer eine strenge Kleiderordnung: Dirndl für die Damen, Leder- bzw. Trachtenhosen für den Herrn. Mein Gewand und ich boten gemeinsam mit zwei kernigen jungen Musikanten aus meiner Blasmusik die Kulisse für die aufspielenden Musiker aus dem Alpenraum. Auch hier wurde die heimatliche Musik mit weltmusikalischen Einflüssen verflochten. Ich war beeindruckt ob der musikalischen Verwurzelung, die sicht- und hörbar wurde.
Apropos Wurzeln: Werfen wir einen Blick über den Brenner, stellen wir fest, dass die heute auf den italienischen Straßen gesungenen Canzone, die Musik Zuccheros, Vasco Rossis, Renato Zeros und all der anderen großen Sänger den Belcanto von Verdi, Rossini und Bellini in sich tragen. Eine Kompilation diverser Bands auf meiner kürzlich wiederentdeckten Russendisko-CD (Wladimir Kaminer lässt grüßen) versprüht die tiefe Emotionalität der russischen Seele, die auch die Musik Tschaikowskys inne hat. Die coole Musik Norwegens findet man auch schon bei Edvard Grieg. Die Liste lässt sich auf viele Länder unserer Erde ausdehnen.
Wie ist das mit meinen eigenen musikalischen Wurzeln? Eine emotionale Verbindung zur alpenländischen Musik verspürte ich zumindest nicht. Mein polnischer Akkordeonlehrer scheiterte in meiner kindlichen Musikerziehung, als er mir die „Tiroler Holzhackerbuam“ schmackhaft machen wollte. Das ging gar nicht. Um ihn nicht vollends zu enttäuschen, schleppte ich dann doch noch ein Werk eines österreichischen Künstlers an: Falcos Skandalsong „Jeannie“. Nun ja, ich fühlte mich recht nordisch, wenn wir auf unserem Segelboot Shanties anstimmten oder in den Dünen Langeoogs Lale-Andersen-Songs schmetterten, aber Wurzeln sind etwas anderes. Ich lauschte mich durch die Charts, ging in Musicals und klassische Konzerte, verschlang in meiner Jugend die Verdi-Opern. Meine ersten Schritte an der Trompete stolperte ich im Posaunenchor, es folgte eine klassisch geprägte Ausbildung, bis ich schließlich beim Jazz und der Weltmusik landete.
Und jetzt in der bayerischen Blasmusik! Hier wurde das Brauchtum, die Wurzeln, inbrünstig gelebt. In perfekt sitzender Tracht wurde im Gleichschritt marschiert und zu katholischen Festivitäten prozessiert. Als schräger Vogel wurde ich freundlich aufgenommen. Man verzieh es mir sogar, wenn ich, statt zu marschieren, spaziert bin oder mit meinen Bekleidungsfehlern – Sonnenbrille, Handtasche, Sandalen statt Haferlschuhe – die Punktewertung für die Homogenität der Trachtenpräsentation durcheinander wirbelte. Nach eineinhalb Jahren redlichen Mühens brach dann doch meine Jazzerseele mit mir durch: Ich spielte meinen letzten Marsch in der Blaskapelle, legte die Tracht ab und meine Mutter übernahm mein Dirndl für Oktoberfest-Feiern in Norddeutschland. Mittlerweile wurde mir Asyl in einer der wenigen Jazzbands im Rosenheimer Raum gewährt. Mein altes Leben hatte mich zum Teil zurückerobert.
Und dann kam die Krise durch die virale Pandemie und Mund-Nasen-Schutzmasken als Ostergeschenk. Diese wurden sogleich von mir mit Trompete und meiner Corona-Schicksalsgefährtin am Kontrabass in verschiedenen musikalischen Posen getestet. Als wir in den sozialen Medien vernahmen, dass Eintrittskarten für eine BR-Aufzeichnung der Wirtshausmusikanten für ein originelles Foto oder Video ausgelobt wurden, waren wir nicht mehr zu halten. Wir fotografierten uns per Selbstauslöser während der Musiksendung mit Trompete, Kontrabass und viel Mundschutz und ergatterten zwei begehrte Plätze im Publikum. Die Freude darüber war riesengroß. Wenn ich auch in der alpenländischen Musik und Kultur nicht wirklich verwurzelt bin, so haben sie über die Jahre doch tiefe Spuren in mir hinterlassen. Vielleicht kann man es mit Luftwurzeln vergleichen. Aber da war es schon wieder, mein altes Problem: Hilfe, ich brauche ein Dirndl!
Dr. Petra Spelzhaus, 18. April 2020, für
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Spontan sprang Dr. Petra Spelzhaus bei der Jazzahead 2019 für eine erkrankte Kollegin ein und berichtete vom Partnerland Norwegen für klassik- begeistert.de . Weitere Beiträge als Autorin folgten. Schon früh entstand der Kontakt zur Musik. Kaum dass Petra sprechen konnte, kannte sie schon sämtliche Komponisten ihres Quartett-Kartenspiels auswendig. Sie versuchte sich seit ihrer Kindheit an diversen Instrumenten, bis sie als Jugendliche auf ihre große Liebe, die Trompete, traf. Nach zunächst klassisch ausgerichteter Ausbildung stieß die gebürtige Bremerin auf Jazz- und Weltmusik. Da war ihr klar: „Ich will musikalisch frei sein und improvisieren!“ Namhafte Professoren besaßen die Geduld und nahmen sich ihrer an. Die Erkenntnis reifte: Je leichter und freier Musik klingt, desto mehr Schweiß steckt dahinter. Getreu ihrem Motto „Life is Jazz“, möchte die ganzheitlich tätige Ärztin Auge und Ohr auf klassik-begeistert.de weiten und der Jazzmusik Gehör verschaffen. Dr. Petra Spelzhaus ist Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin und Jazztrompeterin, sie lebt und arbeitet in München.
Hallo Barbara!
Herrlich deine Geschichte mit der Heimatveränderung gen Süden! Es gibt in Bayern ja durchaus eine Szene, die Jazziges mit heimatlicher Folklore verbinden. Freakig dein Dirndl-Bild! Ich wohne seit zwei Jahren bei Bremen in Kirchweyhe und hab ebenfalls zuvor vieles in meiner letzten Heimat zurückgelassen.
Ich selber spiele E-Bass, aber auch Gitarre. und komponiere in meiner Band Beelzebub Airways.
Außerdem schreibe ich gelegentlich Jazz-Rezensionen für Jazzthetik.
Ich glaube ich werde öfter mal auf deinem Blog vorbeischauen.
Liebe Grüße
Andreas