Egal, wie man zu Siegels Musik steht, der Liederkomponist versteht sein Handwerk. Ähnlich wie Giuseppe Verdi seinerzeit hat er Ohrwürmer geschrieben, die wir nur mit Mühe abschütteln können. Würden die Siegel-Hits ähnlich wie Verdis Klassiker den Weg in die Spaghettireklame schaffen, sie würden auch von der jungen werberelevanten Gruppe mitgepfiffen werden.
von Petra Spelzhaus
Foto: Ralph Siegel. wikipedia.de (c)
Wir blicken zurück ins Jahr 1982. Es war Samstagabend und meine Eltern eingeladen auf eine Feier eines Arbeitskollegen meines Vaters. Ich wurde wie üblich mitgenommen und verschwand mit den anderen Kindern vor einem Fernseher im Obergeschoss. Es lief eine mir damals unbekannte internationale Musiksendung, in der Interpreten aus 18 Ländern jeweils in ihrer zum Teil exotisch klingenden Heimatsprache Lieder präsentierten. Das Ganze stellte sich als Wettbewerb heraus, und es wurden ordentlich Punkte für die Darbietungen verteilt.
Deutschland durfte beginnen und wurde von einer engelsgleichen 17-jährigen Sängerin mit weißer Gitarre vertreten. Sie sang ein äußerst eingängiges Friedenslied, untermalt von traumschiffartigen Strings. Was besonders erfreulich war und zur guten Laune des Abends beitrug, dass sie die höchste Punktzahl beim Grand Prix Eurovision de la Chanson – wie der Eurovision Song Contest damals noch hieß – absahnte und gemeinsam mit einem Herrn im Gitarren-weißen Sakko den Preis entgegen nahm. Mir gefiel die Sendung: Viel schöne Musik, und Deutschland gewinnt immer, wie ich in meiner kindlichen Naivität überzeugt war…
Zeitsprung ins Jahr 2020, ins Hier und Jetzt. Wir sitzen zu viert am Wohnzimmertisch – zwei Menschen, die die 1980er Jahre noch bewusst erlebt haben und zwei Studenten, die kurz vor der Jahrtausendwende geboren wurden. Wir spielen ein assoziatives Kartenspiel. Die Karten zeigen phantasievoll gemalte Figuren und Symbole. Ein Teil der Mitspieler soll eine Karte aufgrund von dezenten Hinweisen des Ausspielenden erkennen. Ich lege eine Karte mit Theatermasken auf den Tisch und gebe als Hinweis „Katja Ebstein“. Ein Spielstein wandert direkt auf meine Karte. Die beiden Studenten können mit der Assoziation so gar nichts anfangen. Wir betreiben ein bisschen musikalische Nachhilfe und laden auf Youtube ein Video vom Grand Prix Eurovision de la Chanson aus dem Jahr 1980 aus Den Haag hoch. Ein Pianist mit weißen mit kleinen Clowns geschmückten Handschuhen leitet einen fulminanten Auftritt von Katja Ebstein mit ihrem Hit „Theater“ ein. Alle vier haben wir anschließend einen Ohrwurm…
Was haben die beiden Episoden gemeinsam? Sie zeigen Höhepunkte im Schaffen eines berühmten Geburtstagskindes. Ralph Siegel feierte vor wenigen Tagen in Füssen seinen 75. Geburtstag. Dem am 30. September 1945 in München geborenen Komponisten und Musikproduzenten wurde die Musik geradezu in die Wiege gelegt. Sein Vater war der berühmte Schlagerkomponist und -texter Ralph Maria Siegel, seine Mutter die Operetten-Sängerin Ingeborg Döderlein. Schon mit 12 Jahren begann Ralph Siegel mit der Komposition seiner ersten Musiktitel. Über 2000 weitere sollten folgen. „Mr. Grand Prix“ nahm 25 Mal beim europäischen Musikwettbewerb als Komponist bzw. Produzent teil. War er 1980 noch mit Katja Ebsteins „Theater“ und im Folgejahr mit Lena Valaitis‘ „Johnny Blue“ auf den zweiten Platz abonniert, so erreichte er 1982 im englischen Harrogate mit Nicoles Darbietung von „Ein bisschen Frieden“ den lang ersehnten Sieg.
So manch einer mag sich fragen, was dieses Thema im Klassik-Blog mit gelegentlichem Jazztouch zu suchen hat. Liebe Klassik-Gemeinde, Hand aufs Herz: Gibt es irgendjemanden, der damals zumindest schon im Schulalter war, an dem der Erfolg des Friedensliedchens komplett vorbeigegangen ist? Ich denke, man kann es ohne schlechtes Gewissen als Kollektiverlebnis bezeichnen. Und haben nicht schon Generationen von Jugendlichen und Junggebliebenen zu Dschingis Khans „Dschingis Khan“ oder „Moskau“ getanzt? Egal, wie man zu Siegels Musik steht, der Liederkomponist versteht sein Handwerk. Ähnlich wie Giuseppe Verdi seinerzeit hat er Ohrwürmer geschrieben, die wir nur mit Mühe abschütteln können. Würden die Siegel-Hits ähnlich wie Verdis Klassiker den Weg in die Spaghettireklame schaffen, sie würden auch von der jungen werberelevanten Gruppe mitgepfiffen werden.
Siegels Freund und Jazzproduzent Siggi Loch ehrte ihn bereits schon vor 15 Jahren zum 60. Geburtstag. Loch gewann die renommierten Jazzmusiker Carsten Daerr, Henning Sieverts und Bastian Jütte, die große Hits des „Meisters der Glamour-Einfachheit“ reharmonisierten und im Jazzgewand auf der ACT CD „Germany 12 Points“ verewigten. Einige Broadway-Melodien haben den Weg ins Great American Songbook geschafft. Ähnlich haben die Siegel-Lieder die Chance, zu deutschen Jazzstandards zu werden, so zumindest die Version des Klappentextautors der CD.
Apropos Broadway. Siegels Schaffen hat sich von den etwa dreiminütigen Kompositionen zu epischeren Werken entwickelt. Die Uraufführung seines Musicals „Zeppelin“ musste Corona-bedingt vom Herbst 2020 auf 2021 verschoben werden. Weitere Musicals sind geplant. Und vielleicht folgt in ein paar Jahren auch wieder eine neue Biographie. Die erste gab‘s vor fünf Jahren. Zum 75. Geburtstag schrieb Ralph Siegel aufgrund eines ereignisreichen halben Jahrzehnts die zweite. Wir können gespannt sein, was wir in den kommenden Jahren von dem musikalischen Tausendsassa noch zu sehen, hören und lesen bekommen.
Dr. Petra Spelzhaus, 3. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Spontan sprang Dr. Petra Spelzhaus bei der Jazzahead 2019 für eine erkrankte Kollegin ein und berichtete vom Partnerland Norwegen für klassik- begeistert.de . Weitere Beiträge als Autorin folgten. Schon früh entstand der Kontakt zur Musik. Kaum dass Petra sprechen konnte, kannte sie schon sämtliche Komponisten ihres Quartett-Kartenspiels auswendig. Sie versuchte sich seit ihrer Kindheit an diversen Instrumenten, bis sie als Jugendliche auf ihre große Liebe, die Trompete, traf. Nach zunächst klassisch ausgerichteter Ausbildung stieß die gebürtige Bremerin auf Jazz- und Weltmusik. Da war ihr klar: „Ich will musikalisch frei sein und improvisieren!“ Namhafte Professoren besaßen die Geduld und nahmen sich ihrer an. Die Erkenntnis reifte: Je leichter und freier Musik klingt, desto mehr Schweiß steckt dahinter. Getreu ihrem Motto „Life is Jazz“, möchte die ganzheitlich tätige Ärztin Auge und Ohr auf klassik-begeistert.de weiten und der Jazzmusik Gehör verschaffen. Dr. Petra Spelzhaus ist auch Jazztrompeterin, sie lebt und arbeitet in München.