„Es ist eigenartig, eine Saison vorzustellen, von der man nicht weiß, ob und wie sie stattfindet.“ (Generalintendant Christoph Lieben-Seutter)
Elbphilharmonie, 29. April 2020
Foto: © Thies Rätzke
von Guido Marquardt
Generalintendant Christoph Lieben-Seutter hat am Mittwoch das Programm der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle Hamburg für die Spielzeit 2020/2021 vorgestellt. Neben erwarteten und überraschenden Programm-Highlights, die zum Glück keine marktoptimierten Anpassungen an einen Mainstream-Geschmack erkennen lassen, stand auch die Frage im Raum, wie die Ungewissheiten der weiteren Monate sich organisatorisch auswirken.
Wie in anderen Konzertstätten auch ruht der Spielbetrieb in der Hamburger Elbphilharmonie und Laeiszhalle aufgrund der aktuellen Corona-Situation vorerst bis zum 31. August 2020 (klassik-begeistert.de berichtete). Davon war natürlich auch das 5. Internationale Musikfest Hamburg betroffen, das eigentlich am 24. April in der Elbphilharmonie hätte eröffnet werden sollen. Übrig blieben vom Musikfest lediglich ein modifiziertes Eröffnungskonzert als Online-Video sowie das ohnehin von vornherein virtuell geplante interaktive Computerspiel „Genesis“.
Viel zu tun im Krisenmodus
Rund 330 Konzerte musste Intendant Christoph Lieben-Seutter bereits stornieren – Verschiebungen sind aufgrund der komplexen Abhängigkeiten von Infrastruktur und handelnden Personen meist nicht möglich. Dennoch waren seine 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kurzarbeit nicht beschäftigungslos. Die Rückabwicklung, Umplanung und Kommunikation nahm viel Zeit in Anspruch. Lieben-Seutter dankte ausdrücklich dem Team, das in der Krise wahre Charakterstärke gezeigt habe.
Gut angelaufener Hilfsfonds
Zugleich zeigte sich Lieben-Seutter zufrieden mit dem Zwischenstand des aufgelegten Elbphilharmonie-Hilfsfonds für in Not geratene Musiker (klassik-begeistert.de berichtete). Der Hauptzustrom an Geldern für diesen Fonds kommt aus nicht in Anspruch genommenen Rückzahlungen von verfallenen Eintrittskarten. Doch auch unabhängig davon gehen Unterstützungsbeiträge für den Fonds ein.
Viele offene Fragen
Nach einem konzertfreien Sommer könnte es im September mit der neuen Spielzeit losgehen. Lieben-Seutter kam nicht umhin, sowohl die Form der Saison-Pressekonferenz via Zoom-Online-Konferenz als „sehr ungewöhnlich“ zu bezeichnen, als auch für die Spielzeitplanung festzuhalten: „Es ist eigenartig, eine Saison vorzustellen, von der man nicht weiß, ob und wie sie stattfindet.“
Und Lieben-Seutter ist ehrlich – dass alle Konzerte wie geplant stattfinden können, hält er zwar für möglich, aber auch für unwahrscheinlich. Zumal das auch von schwer vorhersehbaren Fragen wie der Reisemöglichkeit internationaler Künstler abhängt.
Sollten Rahmenbedingungen und Auflagen die Durchführung in der gewohnten Form nicht zulassen, würden die entsprechenden Veranstaltungen in jedem Fall erst mal storniert werden. Was dann ersatzweise möglich ist („bei mindestens sechs Wochen Vorlauf kann man noch reagieren“), hinge stark von den genauen Bedingungen ab – es wäre in jedem Fall dann ein ganz anderes Programm mit vollem Karten-Rückgaberecht. Lieben-Seutter sieht auf jeden Fall bei der Kulturbehörde „den Willen, etwas möglich zu machen“.
Geänderter Vorverkauf
Eine grundlegende Änderung gibt es auch im Kartenverkauf: Während die Abo-Reihen bereits im Verkauf sind und laut Lieben-Seutter gut angenommen würden, startet der Einzelkarten-Verkauf nun erst am 26. Mai 2020. Dabei soll es sich zunächst nur um Bestellungen handeln, die ohne sofortige Zahlungsverpflichtung, aber auch ohne konkrete Platzzuweisung laufen. Erst sechs Wochen vor dem jeweiligen Konzerttermin erfolgt dann die genaue Platzvergabe; erst dann entsteht die entsprechende Zahlungsverpflichtung. Damit sollen die mit den aktuellen Ungewissheiten verbundenen Risiken noch kundenfreundlicher abgefedert werden.
Start mit großen Namen
Starten würde die Saison mit einem zweitägigen Eröffnungs-Event mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra unter Manfred Honeck, am ersten Abend verstärkt durch Anne-Sophie Mutter, am zweiten Abend durch Rudolf Buchbinder. Ein weiteres US-amerikanisches Spitzenorchester ist ebenfalls an zwei Abenden in Hamburg zu Gast: das Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst im Oktober. Sir Antonio Pappano wird gleich mehrfach mit verschiedenen Orchestern in Hamburg am Pult stehen. Andere große Namen auf dem Dirigententableau sind Valery Gergiev, Paavo Järvi, Andris Nelsons, Ingo Metzmacher – und auch Teodor Currentzis gibt sich wieder die Ehre, sowohl mit dem musicAeterna-Ensemble als auch mit dem SWR Symphonieorchester. Letzteres wird an einem Abend verstärkt durch die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, die als Portraitkünstlerin in der geplanten Spielzeit mit einigen spannenden Programmen an sechs Terminen zu erleben sein wird. So gibt es im Oktober einen Themenabend namens „Dies Irae“, und im Mai steht ein Konzert auf der Liste, das sich mit Kurt Schwitters‘ Lautgedicht „Ursonate“ befasst, einem Schlüsselwerk des Dadaismus.
Debütanten am Pult
Auch Elbphilharmonie-Debütanten am Dirigentenpult gibt es zu erleben, so den lang erwarteten Zubin Mehta, der im Januar mit dem BR-Symphonieorchester ein Wagner-, Dvořák- und Strawinsky-Programm im Gepäck hat. Überhaupt wird Strawinsky anlässlich seines 50. Todestages im Jahr 2021 wiederholt im Blickpunkt stehen (vor allem sein Spätwerk); generell zieht sich ein gewisser Russland-Schwerpunkt durch die Spielzeit. Auch Lahav Shani wird als Nachfolger von Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic Orchestra bei seinem erstmaligen Elbphilharmonie-Gastspiel etwas Russisches im Gepäck haben (Schostakowitschs Fünfte, dazu ein Violinkonzert von Brahms). Ein weiterer Debütant, René Jacobs, wird mit dem Freiburger Barockorchester im Oktober das laufende Beethoven-Jubiläumsjahr bespielen. Geplant ist eine konzertante Aufführung der „Fidelio“-Urfassung „Leonore“.
Anoushka Shankar und Max Richter mit Carte Blanche
In der „Reflektor“-Reihe, der Carte Blanche unter den Konzertprogrammen, darf sich in der kommenden Spielzeit Anoushka Shankar austoben. Als Tochter des berühmtesten indischen Musikers, Ravi Shankar, wird sie aus Anlass von dessen 100. Geburtstag an verschiedenen Abenden auch einige Bezüge aufzeigen. Zudem wird der deutsch-englische Komponist und „Satie-Wiedergänger“ Max Richter ebenfalls ein frei gestaltetes Schwerpunktprogramm präsentieren.
Solisten und Residenten
Bei den Solisten muss für die kommende Spielzeit Daniil Trifonov hervorgehoben werden, der fünf Mal in der Hansestadt gastieren wird, auch mit einem Programm, das ausschließlich Musik des 20. Jahrhunderts enthält. Auch Liederabende stehen im Kalender, auch mit der Sopranistin Elina Garanča.
Ganz unterschiedliche „Composer in Residence“-Schwerpunkte ergeben sich mit dem bald 95-jährigen György Kurtág, einem Meister der Reduktion mit unverkennbarer Nähe zu Ligeti, und Thomas Adès, der gleich in dreifacher Rolle – als Komponist, Dirigent und Pianist – zu erleben sein wird.
Grenzüberschreitendes Festivalprogramm
Das Harbour Front Literaturfestival wird als eine Art „Festival im Festival“ im September in Gestalt von „Harbour Front Sounds“ 14 Veranstaltungen als Begegnung von Autoren und Schauspielern und Musikern erleben wie etwa zwischen Richard Ford und Jackson Browne.
Auf einen Nachfolger des Festivals Greatest Hits dürfen sich Fans der zeitgenössischen Musik freuen: Als Biennale wird ab dem Frühjahr 2021 an zehn Tagen ausschließlich Musik der letzten 20 Jahre im Blickpunkt stehen. Damit soll dieser Musik ein Wiedereinstudierungs- und -aufführungsrahmen geboten werden, der sich bewusst von den häufig etwas flüchtigen Bedingungen im Zusammenhang mit Uraufführungen abgrenzt. Hierbei wird auch das NDR Elbphilharmonie Orchester drei Mal zum Einsatz kommen. Das Orchester unter seinem Chefdirigenten Alan Gilbert hat auch sonst wieder einen großen Anteil am Gesamtprogramm. Unter anderem bestreitet es verschiedene Konzertabende mit Werken von Igor Strawinsky, den mit dem Orchester in den 1950er- und -60er-Jahren auch eine besondere Künstlerfreundschaft verband.
Auch im Bereich Jazz und Weltmusik gibt es wieder ein umfangreiches Programm für die kommende Spielzeit. Beispielsweise ein Programm mit dem San Francisco Jazz Collective und Lizz Wright, die einen Joni-Mitchell-Abend bestreiten. Oder eine musikalische Begegnung von pakistansicher Sufi-Musik und spanischem Flamenco.
Das genaue Programm des Internationalen Musikfests Hamburg 2021 wird erst im November bekanntgegeben. Wie bei allen anderen Konzertterminen auch bleibt abzuwarten, was davon am Ende wirklich zur Aufführung gelangen wird. Immerhin, das Motto des Musikfests steht bereits fest. Es lautet „Hoffnung“.
Hier geht es zur kompletten Saisonvorschau: https://www.elbphilharmonie.de/de/saison-20-21
Guido Marquardt, 29. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Happy Birthday, Elbphilharmonie – eine große Analyse klassik-begeistert.de