Foto: (c) Matthias Creutziger
Musikverein Wien, Goldener Saal, 31. Mai 2022
Staatskapelle Dresden
Christian Thielemann, Dirigent
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 9 d-Moll
von Herbert Hiess
Auch am zweiten Abend bestätigt die Dresdner Staatskapelle ihren Ruf als „Wunderharfe“, wie Richard Wagner es schon treffend formulierte. Das Orchester ist in allen Instrumentengruppen schlichtweg perfekt – und mit einem solchen Dirigenten wie Christian Thielemann ist es auch kein Wunder, wenn mit so einem Orchester Sternstunden entstehen.
Bruckners neunte und letzte Symphonie wird so gerne als „unvollendet“ angesehen. Dieses Werk (übrigens in der gleichen Tonart wie Beethovens neunte) ist genauso wenig unvollendet wie Schuberts so gerne benannte siebente Symphonie. Der Finalsatz von Bruckners letztem Werk ist in sich so geschlossen und abgeschlossen, dass von der musikalischen Logik kein anderer Satz mehr passt – genauso ist es bei Schuberts Symphonie, wo der zweite Satz so eine terminale Abgeschlossenheit hat wie eben der Schlusssatz von Bruckners Neunter. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Bruckner letztlich die Arbeiten an einem vierten Satz einstellte. Er dürfte selbst eingesehen haben, dass hier nichts mehr anderes hinpasst.
Thielemanns Interpretation mit der Staatskapelle an diesem Abend lässt sich in die Titanentafel des Musikvereins eingravieren – und zwar zu Herbert von Karajan, Carlo Maria Giulini und Leonard Bernstein. Großartigst, wie Thielemann und seine Musiker hier in Bruckners Klangwelt eintauchten. Der Maestro baute im ersten Satz die Steigerungen mit unendlicher Gewalt auf, ohne dass je das Gefühl auftauchte, man würde von den Klangmassen überschwemmt. Im Scherzo hämmerten die Pauken und Posaunen mit aller gebührenden Schärfe, während das Trio lieblich dahinflatterte. Ausgezeichnet vor allem hier die Holzbläser mit ihren berührenden Einwürfen.
Der Finalsatz ist fast wie eine musikalische Biographie des Komponisten. Hier hörte man seine Referenz an Richard Wagner mit dem Schwertmotiv aus dem Ring, das wunderbar von den Trompeten zelebriert wurde. Ähnlich wie bei Mahlers neunter Symphonie beginnt hier der Satz mit einer bestürzenden Streicherkantilene, die Thielemann berührend erklingen ließ.
Und der Satz endet mit den Streichern und den von Bruckner so geliebten Wagner-Tuben (die von den Hornisten gespielt werden). Hier kann man sich den Aufstieg ins Paradies vorstellen; das hätte Thielemann vielleicht noch mehr auskosten können; das hat Leonard Bernstein mit den Wiener Philharmonikern einzigartig demonstriert. Spätestens hier zeigt sich, warum Bruckner diese Symphonie angeblich „dem lieben Gott“ gewidmet hat.
Alles in allem waren die Konzerte von der Art, an die man noch lange zurückdenken wird. Und es macht schmerzlich bewusst, wie dünn die „Dirigentenszene“ mit wahren Könnern und Stars besetzt ist; offenbar glaubt heute Jede und Jeder, er oder sie seien ein Maestro oder Maestra, wenn der Taktstock fehlerfrei gehalten werden kann. Das dem nicht so ist – das hat uns Kapellmeister Thielemann schmerzlich vor Augen und Ohren geführt.
Herbert Hiess, 31. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at
Sächsische Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann Musikverein Wien, Goldener Saal, 30. Mai 2022