Kühlhaus Berlin – fotografiert aus der U1 © Andrea Wenzler
Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin – RSB – nennt sich ganz zu Recht nach seiner (und meiner) Heimatstadt: Kaum ein anderes Orchester fühlt sich nicht nur auf einem, zwei oder drei regulären Podien zu Hause, sondern sucht daneben regelmäßig die signature-Orte der Stadt auf. Im Kühlhaus Berlin etwa versinkt man gern im Plüschsofa, während durchaus mal Techno-Bässe in die Generalpause wummern.
Johannes Matthias Sperger
Quartett für Flöte, Viola, Violoncello und Kontrabass D-Dur
Erwin Schulhoff
Sextett für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli
Johannes Brahms
Sextett für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli B-Dur op. 18
Stipendiat:innen der Orchesterakademie des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Berlin
Kühlhaus Berlin, 22. Mai 2025
von Sandra Grohmann
Wie kleine Orchesterwerke kommen die Streichsextette daher, mit denen sich Johannes Brahms als Mitte Zwanzigjähriger für die erst viel später folgenden Sinfonien quasi warmlief. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten der RSB-Orchesterakademie stellen sich mit der ersten dieser großen kleinen Kompositionen vor, wobei die Violinen (damit alle spielen können) nach dem zweiten Satz auswechseln. Das Stück – das hörbar Bezug auf Bach nimmt – ist seinerseits die Wurzel des Stücks, das der später im KZ Wülzburg verstorbene Erwin Schulhoff Mitte der 1920er Jahre für gleiche Besetzung geschrieben hat und das schon vor der Pause erklungen ist.
So unterschiedlich beide Kompositionen sind, so nah bringen die jungen, hochkonzentrierten und spannungsgeladenen Musikerinnen und Musiker sie ihren Hörern. Das liegt nicht vordringlich daran, dass das Publikum sehr nah am und auch auf dem Parkett in der Mitte des Saales im 5. Stock des Kühlhauses Berlin sitzt. So nah, dass ich etwa die Noten der Violine II mitlesen kann. Und eben auch so nah, dass der gemeinsame Atem des Ensembles, das sich da trotz wechselnder Besetzung herausgebildet hat, sich überträgt. Auch die Flitzebogen-Haltung: Unwillkürlich prüfe ich, ob ich gerade sitze.
Am schönsten wird es, als die Musiker zu einem einzigen Klangkörper werden, die Dynamik alle trägt und alle gemeinsam ein wenig von den Stühlen hebt. Fast tänzerisch sind diese Momente. Zu Herzen geht auch, wie die irrwitzig virtuosen Passagen der beiden Celli und die lyrischen langen Bögen von Violinen und Violen präzise aufeinander ein- und abgestimmt sind. Schwer, die Brahms’schen Streichergesänge nicht mitzusummen. Eigentlich unmöglich. Ich hoffe, es hat keiner gemerkt.
Das ist das beeindruckendste Erlebnis des Abends: Wie 14 junge Künstlerpersönlichkeiten all ihr Können, trotz vielleicht einer gewissen Konkurrenz (weiß man’s?), gemeinsam in den Dienst der herrlichsten Musik stellen. Das gilt auch für Sprengers originelles Flötenquartett, das hals- oder besser fingerbrecherische Passagen für Yuen Kiu Mario Yeung am Kontrabass bereithält und dem Franziska Dallmann ihren warmen Flötenton und langen Atem leiht.
Apropos warme Töne. Es ist bei solchen Gelegenheiten, finde ich, immer besonders reizvoll, auf die unterschiedliche Tonfärbung der Musiker zu horchen. Heute hört man, dass noch kein jahrelanges Zusammenspiel dazu geführt hat, einen einheitlichen Klang entstehen zu lassen. Und gerade das ist, wenn trotzdem alles so wunderbar passt, von großem Charme. Warm, voll, trocken, knackig – alles ist vertreten. Pures Holz, aber alles anders gefärbt. Insbesondere die Cellotöne von Rafaela Paetsch, Oliwia Meiser und Hideaki Fujiwara kann ich blind unterscheiden. Guilherme Caldas zeichnet sich durch sich durch seinen zartschmelzenden Bratschenton aus, Martha Roske und Berkay Olgun an ihren Violen zaubern klare und zugleich volle Linien in den Saal.
Die Violinen von Arisa Hagiwara, Muge Sak, Yu-Chen Fan, Myung-Yoo Kim, Cristina Cazac und Romina Bernsdorf müssen einfach glücklich sein unter den Händen ihrer Meisterinnen und Meister. Die Violinen I, darunter insbesondere die leidenschaftliche Cristina Cazac, brillieren zugleich in der (wäre es ein Orchester) Konzertmeister-Rolle. Der Blickkontakt unter den Musikern macht die Spannung sichtbar und steigert das Hörerlebnis zusätzlich. Kein Wunder, dass die durch das Ensemble laufenden Passagen nur so perlen. Kein Wunder, dass das ein anderes Erlebnis ist, als Musik aus der Konserve zu hören.
Ich sitze mit meinem Gläschen Sekt von der Bar am Rand der Bühne hinter Violine II und denke andauernd einfach bloß „danke“. Am liebsten würde ich es in den Saal rufen. Die Musiker müssen zwischen den Sätzen sowieso mehrmals warten, bis die Hochbahn den nahen Bahnhof Gleisdreieck wieder verlassen hat und man ihr Quietschen nicht mehr hört.
Vom Technogewummer drei Etagen weiter unten darf man sich schon gar nicht irritieren lassen. Das ist eben Berlin. Die Treppe, die ich dem Fahrstuhl zwecks Auf- und Abstieg vorziehe, weist auf der einen Seite denkmalgeschützte Klinker aus (leicht bröckelnd), auf der anderen Sichtbeton, von tags verziert. Muss man nicht mögen. Gehört aber dazu.
Draußen Blaue Stunde. Die spitzen Türme von Berlins Backsteinkirchen pieksen in den Abendhimmel. Sacht verwandelt sich das frische Grün der für die Berliner Luft zuständigen Straßenbäume in ein Nachts-sind-alle-Katzen-Grau. Ach Berlin, du meine Heimatstadt. Schön biste aber doch.
Sandra Grohmann, 24. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Stipendiatinnen und Stipendiaten der Orchesterakademie des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Berlin:
Franziska Dallmann, Flöte
Guilherme Caldas, Viola
Hideaki Fujiwara, Violoncello
Yuen Kiu Mario Yeung, Kontrabass
Arisa Hagiwara, Violine
Muge Sak, Violine
Martha Roske, Viola
Berkay Olgun, Viola
Rafaela Paetsch, Violoncello
Oliwia Meiser, Violoncello
Yu-Chen Fan, Violine
Myung-Yoo Kim, Violine
Cristina Cazac, Violine
Romina Bernsdorf, Violine
Meine Lieblingsmusik (58): Das Streichsextett G-Dur, op. 36 von Johannes Brahms
https://klassik-begeistert.de/?s=Brahms+Streichquartett