Laeiszhalle Großer Saal, 16. Mai 2024
Viel Harmonie
KURT WEILL (1900–1950), SYMPHONIE NR. 2
FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY (1809–1847), SYMPHONIE NR. 3 A-MOLL OP. 56 – »SCHOTTISCHE“
Sylvain Cambreling Dirigent
Symphoniker Hamburg
von Harald Nicolas Stazol
Habe ich einen Hörsturz? War da nicht gerade forte fortissimo? Und dann im Bruchteil zweier Sekunden nur noch zwei Querflöten, wispernd, ppp…? Ganz ehrlich, liebe Leser, das ist schon ein Knalleffekt! Aber zu Kurt Weill und seiner Zweiten kommen wir noch!
Spielen doch Sylvain Cambreling und seine Band gerade Karajan an die Wand, und Muti, und Celibidache. Man mag mir widersprechen, aber heute Abend habe ICH das Heft in der Hand, und ich habe die „Schottische“ – Mendelssohn, klar, oder? – wirklich schon oft gehört, aber dieser dritte Satz toppt gerade ALLES bisher Gehörte – beim Schlussapplaus, viermal wird Sylvain zurückbeschworen, stehen wir nur nicht, weil wir zu ausgelaugt sind vom frühsommerlich heißen Abend, aber das tut gerade nichts zur Sache! NICHT DAS GERINGSTE! Man mag anderer Meinung sein, aber dann hat man halt nicht recht!
Gerade noch hat Cambreling, eben vor dem Top-Dritten Satze über seine treue Schar, die Symphoniker Hamburg, beim Auftakt, mit dem Blick als graubezopfter Chef einer Rasselbande auffordernd geschaut, „Los geht’s Jungs und Mädels, los geht’s!“, und die lassen sich das nicht zweimal sagen: Und schon geht’s los, raus aus den Startlöchern mit Engelsflügeln!
Der Zufall will es schon ganz zu Anfang, dass dem Orchester eben vorab applaudiert wird, ich sage ja Vorfreude, um nicht Vorspiel zu sagen, nun, zwei Bratschisten wollen sich den Weg zu ihren Plätzen zur Bühne bahnen über das Pult, und stehen oben, ein wenig missverständlich, darob aber so entzückender, dass Rocco, mein treuer Begleiter sagt, „Dein blonder Favorit ist heute Konzertmeister?“ – in dieser Sekunde ja, und wir alle patschen vor Vorfreude in die Hände, und der Junge im Frack verbeugt sich, sein Kollege auch, und ich denke schon, das wird ein Fest, und meiner anderen Begleitung, der Verlegerin, sage ich schon auf der vorsommerlich-warmglühenden Steinbank, Johannes-Brahms-Platz 1, „Das wird euch schon mal gefallen!“
Das Erste? Die Zweite von Kurt Weill. Kurt Weill, denken Sie jetzt? Und ja, schon mein Kenner-Anwalt Micha sagte drei Tage vorher in der Elphi, „Das ist fast meine Lieblingssymphonie.“ – und wie recht er hat! Man kann auch anderer Meinung sein aber dann hat man eben… – Sie wissen, was ich meine.
Und was hört man nicht alles bei Weill! Seine Brecht’schen Lieder, Mussorgskys „Großes Tor von Kiew“ (wie passend), einen stalinistischen Militärmarsch, einige Romantiker, ja auch Mendelssohn-Bartholdy, das mag aber auch wishful thinking von mir sein. Unbestritten und unbestreitbar die DEUTLICHE Avance an Gustav Holst, an die Anfangssequenz seiner „Planets“: Mars the Bringer of War eröffnet die Suite mit dem Schlagen des Holzes auf die Saiten der Geiger, ein Terminus technicus, der mir entfallen, – vielleicht mag ja jemand in den Kommentaren aushelfen…
Erstmals, meine Geneigten, notiere ich, wenn ich nicht das Glas auf den sich abtobenden Maestro wende, wirklich, er wird vor Anstrengung und Verve erst rosa, dann rot, dann puterrot, ich mache mir echt Sorgen – ich schreibe in ganzen Sätzen von meinem Eindrucke, will sagen: Nun schreibe ich ab vom hellblaulinierten Papier.
Wie hingegeben sie alle heute auf der Bühne, und möglicherweise habe ich die Internationalen der Elphi zu hoch eingeschätzt – aber wie sie, meine Hamburger Symphoniker, voller Grazie dabei und Feingefühl, aber bei Weill in diesem triumphalen Marsch – ich empfehle ihn künftig zum Levée vorm Zähneputzen, da kommste gut drauf, ich schwör’, wie meine Kiddies sagen würden – beim Marsch wird mein Lieblingsorchester majestätisch-imperial – aus dem Saal dazu kein Mucks.
Man mag aus der Stille zwischen den Sätzen auch erkennen, dass die wahre Kennerschaft sich in der Laieszhalle einfindet, aus Zeiten, da sie noch Musikhalle hieß. Ich zähle fünf Rollatoren, aber an einem derer einen Gentleman alter Schule, der uns alle an Eleganz überflügelt, und sofort zum Vorbild wird. Aber auch fünf junge Paare, und eine Gruppe von Pennälern – die beiden hören die bildhaften Kompositionen, Weill mit seinem Hollywood-Score, und Bartholdy mit seinem Vor-Kino-Schottland-Gemälde – ich sage ja, her mit der Jugend, Jugend in die Häuser!
Denn sie verdienen es, und eben heute Abend in der Musikhalle, vor der man sich in allem Goldstuck, und den Komponistenbüsten und dem Bildnis dessen, der die ganze Laeisz-Stiftung verwaltet hat, nur zu verneigen hat, wie vor einer sehr, sehr alten Dame, die immer noch lebt, und immer noch Hof hält! Handkuss!
Denn nun springen wir, nach der Pause und einem kühlen Rosé und etwas hochfeinem Tabak, direkt 200 Jahre zurück, zu Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Sylvain lässt alles aufscheinen hier, die Glens und Lochs und und Fenns und Burgen und Maria Stuart, die Königin von Schottland, deren Stätten der nur 20-jährige Komponist besucht. Man erinnere sich, wie der eminente Stefan Zweig in seiner „Maria Stuart“ sie beschreiben wird?
Als Sechzehnjährige zur Königin von Frankreich erkoren, stirbt François II, weil ihn ein Eber auf Stoßzähne nimmt, aber sie ist ja noch Königin von Schottland. Und da ist nichts mehr von prächtig-rauschendem Luxus – ich war in ihren Gemächern in Edinburgh Castle: Nackter Felsen, 50 qm, keine Heizung, kein Bad. Direkt aus einer Suite im Ritz in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Kirkaldy. Ich hoffe, man folgt mir noch?
Hier nun also, durch Cambreling und sein einzigartiges, ja, wirklich und wahrhaftiges Einfühlungsvermögen – dort eine schroffe Kluft, da die wildaufschäumende See, hier ein uraltes Schloss, drüben die windumtoste Isle of Skye.
Man hört ein Hirschkalb, es jagend Schotten, die See und die Felsen, die sommerliche Biene in den Highlands im 2.Satz. Wir erinnern uns, dort oben geriet das Römischen Reich an die Grenzen des Hadrianswalls – es wurde von den im Kriege blaugemalten Pikten verteidigt und gehalten – nun, zugegeben, die hört man gerade nicht.
Zarteste Geste allenthalben – wenn die Bratschen sich mit beiden Bögen sorgsam und zusammen als zwei vor einem Pulte das Notenblatt zurecht- und flachstreichen.
Das Konzert jedenfalls, und damit kommen wir zum Schlusse – könnte gerade auch im Edinburgh Grand Opera House gegeben werden – eigentlich keine schlechte Idee?
Harald Nicolas Stazol, 18. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Symphoniker Hamburg, Martha Argerich, Sylvain Cambreling Laeiszhalle, 25. April 2024