Nicht wenige aus dem beseelten Publikum hätten nach dem langanhaltenden Applaus gerne gleich eine Fähre nach Oslo oder Helsinki bestiegen.
2. Symphoniekonzert in der Musik- und Kongresshalle Lübeck (MUK),
25. Oktober 2021
Foto: Lilya Zilberstein, © ANDREJ GRILC
Jean Sibelius: Karelia-Suite op. 11
Edvard Grieg: Klavierkonzert a-Moll op. 16
Niels Wilhelm Gade: Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 20
Jean Sibelius: Finlandia op. 26
Leitung: Takahiro Nagasaki
Klavier: Lilya Zilberstein
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
von Dr. Andreas Ströbl
Leidenschaftliche Rhythmik und aufbrandende Emotionen sind nicht gerade das, was man mit dem Adjektiv „nordisch“ assoziiert. Aber genau das gab es mit Entschiedenheit im 2. Lübecker Symphoniekonzert, dem musikalischen Begleitprogramm zur „Nordischen Woche“, die heuer ihr 100-jähriges Jubiläum feiert. Diese Veranstaltung sollte nach dem Ersten Weltkrieg die jahrhundertalten Beziehungen Lübecks zu den skandinavischen Nachbarn wieder mit Leben erfüllen.
Quicklebendig präsentierte sich sowohl programmatisch als auch von der spielerischen Darbietung her das Konzert in der Musik- und Kongresshalle, die endlich wieder ihrem eigentlichen Zweck dienen darf, nachdem sie die Corona-Zeit hindurch das zentrale Impfzentrum der Hansestadt war.
Das mitreißendste, was Sibelius jemals komponiert hat, ist sicher das Intermezzo aus der Karelia-Suite. Nur schade, dass es so kurz ist. Aus dem waldgrünen Hornmotiv und dem Flirren der Streicher entwickelt sich rasch das frische Jägerthema, das wie ein junges Pferd durch die finnischen Klangwälder trabt. Bereits mit diesem Satz ist klar, wie schwungvoll das Philharmonische Orchester diesen Trab und alle weiteren Gangarten dieses Abends meistert. Takahiro Nagasaki ist ein ausgesprochen dynamischer Dirigent, der differenziert die jeweiligen Klangfarben herausarbeitet und tänzerisch-leicht das Orchester im Griff hat. Das brilliert durch starke, exakt spielende Blechbläser und transluzid webende Streicher. Der Wechsel zum elegisch-melancholischen Wesen der Ballade gelingt völlig selbstverständlich, um dann goldenes Sonnenlicht auf das bewegte Wasser eines skandinavischen Sees zu zaubern. Spannung entsteht durch klar akzentuierte Fermaten, während im dritten Satz eine wehmütige Stimmung, ja, das Gefühl der Einsamkeit die Szene bestimmt. Die mündet in freudige Dynamik und ein rasant bewegtes Finale.
Dafür gab es bereits begeisterten Applaus, der in die Begrüßung der russischen Pianistin Lilya Zilberstein überging. Die ließ keinen Zweifel daran, dass sie Griegs Klavierkonzert voller Entschiedenheit in Angriff nahm und das begann mit dem ersten knallenden Ton der fallenden „a-a-gis-e“-Kaskade, die für Grieg so charakteristisch ist und die er auch in seinen Symphonischen Tänzen verwendet hat.
Zilbersteins Spiel entspricht ihrem resoluten, mitunter fast streng wirkendem Habitus; auch bei den schnellen Läufen ist jeder Ton klar gesetzt. Temperamentvoll-perlend fließt der erste Satz, die Pianistin beherrscht die musikalische Szenerie, wie sie zugleich ungemein respektvoll mit der anspruchsvollen Partitur umgeht. Im Tempo fordert sie das Orchester, aber drängt es niemals. Horn und Klavier begegnen sich im ausgewogenen Dialog, wobei auch von der Lautstärke her der Flügel dominiert.
Dem anpackenden Gestus des ersten Satzes gegenüber beginnt der zweite wie ein zartes Liebeslied, aber auch bei den volksliedhaften Anklängen wirkt das nie verspielt, sondern immer sehr ernst und konzentriert.
Der dritte Satz ist sofort wieder hochpräsent und im Tempo anziehend; die Pianistin kennt keine Kompromisse, übertönt aber nie andere Instrumente wie die vogelhelle Flöte. Mit energischen Anschlägen wird das Finale vorbereitet, in dem die Trompete klare, leuchtende Momente hat. Endlich bricht sich der Jubel Bahn und das gilt für die letzten Takte des Konzerts wie für den begeisterten Beifall.
Gades 4. Symphonie nach der Pause ist ein reizender dänischer Landausflug – nun, die Musik ist nicht genuin dänisch, weil der Komponist womöglich Volkslied-Themen aufgegriffen hätte. Zudem klingt hier weit weniger Mendelssohn durch als dies der Symphonie immer wieder zugesprochen wird. Sie kommt melodiös-romantisch daher; der erste Satz läuft flink über eine Frühlingswiese, auf der man im zweiten Satz liegend dann die ziehenden Wolken betrachtet. Gade verzichtet, im Gegensatz zu seinen ersten drei Symphonien, in diesem Werk auf dunkle Posaunen. Diese Musik kennt keine Probleme und ist schlichtweg liebenswert-luftig. Das flotte und knackige Scherzo dürfte eines der kürzesten der Literatur sein. Fröhlich und abwechslungsreich ist der vierte Satz und ganz der Partitur entsprechend gibt ihn das Orchester sympathisch und lebensbejahend wieder – ein schönes Kontrastprogramm zum Lübecker Schmuddelherbst.
Umso düsterer und schwerer droht der Anfang von Sibelius’ Finlandia, mit sehr starkem Blech und der so typischen rhythmischen Unruhe, die dann von einem rasch anziehenden Duktus abgelöst wird, um sich schließlich in den zentralen Hymnus zu steigern, bei dem man jedesmal am liebsten zur Ehre Suomis aufstehen möchte. Sibelius war selbst schuld an den zahlreichen vertonten Versionen, weil er diesen Teil so sangbar komponiert hat. Da half es nichts, dass er beteuerte: „Es ist nicht zum Singen gedacht, es ist ja für ein Orchester komponiert“, um dann einzuräumen: „Aber wenn die Welt singen will, dann kann man wohl nichts dagegen tun.“
Trotz des großen Orchesters und der musikalischen Urgewalt dieser heimlichen finnischen Nationalhymne bleibt der Klang klar und strahlend. Nicht wenige aus dem beseelten Publikum hätten nach dem langanhaltenden Applaus gerne gleich eine Fähre nach Oslo oder Helsinki bestiegen.
Dr. Andreas Ströbl, 26. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Elbphilharmonie, klassik-begeistert.de