Das überdachte Podium auf dem Rathausmarkt, im Hintergrund der Turm der Petrikirche (Foto: RW)
Die großartigen Tänzerinnen und Tänzer des Hamburger Balletts
Wir kamen etwa 20 Minuten vor Beginn, schätzungsweise weitere 2.000 Zuschauer hatten sich wie wir hinter der Absperrung eingefunden. Um es vorweg zu sagen, wir blieben, wie gebannt von Neumeiers zweistündiger Führung durch sein umfangreiches Werk, bis zum Schluss, als langanhaltender Jubel die Mitwirkenden immer wieder auf die Bühne rief.
Hamburger Rathausmarkt
Open-Air-Veranstaltung am 3. September 2022
von Dr. Ralf Wegner
Angekündigt war kostenfreies Open-Air-Ballett ab 20 Uhr auf dem Rathausmarkt anlässlich der 50-Jahre-Jubiläumsspielzeit Neumeiers. Das Ganze lief unter dem Titel Tanzfeuerwerk und umfasste zehn Ausschnitte aus dem umfangreichen Oeuvre des Hamburger Ballettintendanten, darunter Schlüsselwerke wie Nussknacker, Nijinsky oder Kameliendame.
Eigentlich wollten wir sehen, wie es sich anlässt, wie es läuft und vielleicht nach der zweiten bis dritten Szene wieder nach Hause fahren; sofern Sitzplätze, angeblich sollte es 3.000 geben, nicht mehr frei waren. Viele hatten wohl mit leeren Plätzen gerechnet, aber, wie man hörte, bereits eine Stunde vor Beginn waren alle Plätze besetzt. Wir kamen etwa 20 Minuten vor Beginn, schätzungsweise weitere 2.000 Zuschauer hatten sich wie wir hinter der Absperrung eingefunden. Um es vorweg zu sagen, wir blieben, wie gebannt von Neumeiers zweistündiger Führung durch sein umfangreiches Werk, bis zum Schluss, als langanhaltender Jubel die Mitwirkenden immer wieder auf die Bühne zurückrief.
Was für eine physische Leistung Neumeiers, der per Mikrophon durch die Stücke führte, Persönliches berichtete und zum Schluss noch den Abschlusspart in Mahlers Dritter Sinfonie übernahm; es war wie der Blick des 83-jährigen auf seine 50-jährige Wirkgeschichte beim Hamburger Ballett, als er langsam, in den Bühnenhintergrund schreitend, sich noch einmal mit dem Oberkörper zum Publikum hin drehte. Und was für ein großartiges Ensemble hinterlässt Neumeier, der Ende der kommenden Saison die Stafette an einen bisher noch unbekannten Nachfolger oder eine Nachfolgerin übergeben wird.
Alle Hauptpartien der 10 dargebotenen Stücke konnten hervorragend aus dem Ensemble besetzt werden, wenn man Alina Cojocaru, die mit Alexandr Trusch den ersten Pas de deux aus der Kameliendame tanzte, hinzuzählt. Besonders beeindruckte mich Yaiza Coll als Romola aus Neumeiers Nijinsky Ballett. Wie sie diese Rolle mit intensiver Hingabe und innerer Würde bewältigte und gleichzeitig auch noch ihre Liebe zu dem mittlerweile dem geistigen Verfall hingegebenen Nijinky, grandios von Aleix Martinez getanzt, zum Ausdruck brachte, lässt sie in die Reihe ihrer großartigen Vorgängerinnen wie Carolina Agüero, Hélène Bouchet, Silvia Azzoni, Anna Polikarpova oder Jouelle Boulogne einreihen. Auch Stanislaws Solo im zweiten Teil des Werks ging unter die Haut. Den Tänzer konnte ich nicht erkennen, dafür stand ich zu weit weg, es könnte Louis Musin gewesen sein. Außerdem überzeugte Patricia Friza mit ihrem furiosen Solo während des kriegerischen Stakkato-Auftritts der männlichen Tänzer zur Musik der 11. Sinfonie von Schostakowitsch.
Den Anfang und das Ende galt der Candide-Ouvertüre aus den Bernstein-Dances. Dieses immer wieder begeisternde Werk wurde von dem unermüdlich auch in den anderen Stücken tänzerisch und darstellerisch triumphierenden Christopher Evans angeführt. Danach folgte mit I got Rhythm aus Shall wie Dance Musicalartiges, was mich immer etwas an eine Versammlung von tanzenden Pinguinen erinnert (Männer und Frauen im Frack).
Warum Emilie Mazon immer noch nicht zur Ersten Solistin ernannt worden ist, erschließ sich mir nicht, denn ihre Bühnenpräsenz als Nussknacker-Marie war wieder umwerfend, die zur Ersten Solistin ernannte Xue Lin hatte den Part der Louise übernommen, Matias Oberlin den des Günther. Silvia Azzoni und Alexandre Riabko zeigten ihre immer noch perfekte Kunst des Paartanzes in einem Ausschnitt aus Tod in Venedig, die hingebungsvolle Anna Laudere und ihr Ehemann Edvin Revazov überzeugten in einem der schönsten Pas de deux aus Neumeiers Ghost Light. Großer Jubel galt den Tänzerinnen und Tänzern bei der furiosen tänzerischen Gestaltung des Beginns des Bachschen Weihnachtsoratoriums Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage. Nach den bereits angeführten Ausschnitten aus Nijinsky sowie der Kameliendame erinnerten Edvin Revazov und Alexandre Riabko mit einem intensiv gestalteten Pas de deux an die Freundschaft zwischen John Neumeier und Maurice Béjart (Opus 100 – for Maurice) und schließlich zelebrierten Madoka Sugai und Karen Azatyan mit schöner partnerschaftlicher Hingabe Was mir die Liebe erzählt aus Mahlers dritter Sinfonie.
Ob des wunderbaren, kurzweiligen und nach Mehr verlangenden Tanzfeuerwerks hatte offenbar auch der Wettergott ein Einsehen, und hielt die abendlichen Temperaturen bei noch angenehmen 21 bis 17 Grad. Ach ja, auch der Erste Bürgermeister trat auf, wies auf die Bedeutung Neumeiers als Hamburger Ehrenbürger, Meisterchoreograph und Ballettintendant für das internationale Ansehen Hamburgs hin und überließ dann dem Meister selbst die Bühne. Weit außerhalb des Zuschauerraums nahe am Eingangsportal zum Rathaus stehend verließen wir noch vor Schluss des Beifalls den Ort und gingen die mittlerweile verdunkelte Mönckebergstraße hoch zum Hauptbahnhof. Darüber könnte man auch schreiben, das wäre aber eine ganz andere Geschichte.
Dr. Ralf Wegner, 4. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
John Neumeier, Hamburg Ballett, Portrait, Staatsoper Hamburg