Teodor Currentzis mit seiner musicAeterna brilliert in einer explosiven Aufführung im Wiener Konzerthaus – "Don Giovanni" als fulminanter Höllenritt

Teodor Currentzis, musicAeterna, Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni,  Wiener Konzerthaus, 7. September 2019, halbszenische Aufführung

Foto: © Olya Runyova

Der griechisch-russische Maestro dirigierte wie ein Besessener – und das Resultat hob einen buchstäblich aus dem Sessel.

Wiener Konzerthaus, 7. September 2019, halbszenische Aufführung
Wolfgang Amadeus Mozart, Libretto: Lorenzo da Ponte, Don Giovanni

Dirigent: Teodor Currentzis
musicAeterna (Chor und Orchester)

von Charles E. Ritterband

Man liebt ihn oder hasst ihn; verehrt ihn wie einen Messias der Musik, als Genie – oder verachtet ihn schnöde als überdurchschnittlich begabten Showman, als virtuosen Meister der musikalischen Effekte: Teodor Currentzis spaltet zweifellos die Geister. Aber die Sache ist ganz einfach: Wer ihn ablehnt, versucht keine Karte für Currentzis‘ für Monate zum voraus ausverkauften Konzerte zu ergatten, steht nicht stundenlang Schlange. Und wer ihn mit glühenden Augen und heiß laufendem Gehör verehrt wie zur Zeit wohl keinen lebenden Dirigenten, der kommt in die Konzerte – und applaudiert, jubelt, tobt.

Deshalb herrschte auch in diesem „Don Giovanni“ nur Begeisterung – und die Buh-Rufe, die einem Teil des Wiener Stehplatzpublikums so viel Befriedigung und Selbstwertgefühl vermitteln, blieben an diesem Abend selbstverständlich aus, wie ja auch die Currentzis-Kritiker dem Anlass ferngeblieben sind.

© Lukas Beck, Wiener Konzerthaus

Deshalb ist ein Currentzis-Auftritt jedes Mal ein unvergessliches Erlebnis – nicht nur wegen der musikalischen Höhenflüge (die auch mich, ich gebe es hemmungslos zu, total begeistern), sondern auch wegen der elektrisierenden Atmosphäre im völlig ausverkauften Großen Saal des Wiener Konzerthauses mit seinen 1865 Plätzen, der kollektiven Beglückung der Jünger und Verehrer, dem mitreißenden Jubel des Publikums, der einem das gerechtfertigte Gefühl gibt, einen wirklich außergewöhnlichen Abend erlebt zu haben. Dies noch dazu in einem der beiden schönsten Konzertsäle der Musikhauptstadt Wien – im prachtvollen Jugendstilgebäude des Konzerthauses.

Nun, dieser Don Giovanni – ein Höllenritt in teils diabolischem Tempo, denn darauf läuft ja alles hinaus in dieser genialen und absolut zeitlosen, ja im Zeitalter der ja auch in der Opernwelt grassierenden You-Tube-Wonnen (siehe unter anderem Placido Domingo und Gustav Kuhn) wieder höchst aktuellen Oper. Der zügellose Sex-Maniac, dieser fintenreiche, betrügerische Lüstling (der ja im Grunde eh nie zum Zug kommt…) wird am Ende seiner gerechten Strafe zugeführt. Und das kann natürlich nur sein: Die Hölle, denn Casanova-Freund und -Adept Da Ponte, der es schließlich (siehe sein Lebenswandel) selber ziemlich genau wusste, hatte 1769 vorübergehend die geistliche Laufbahn eingeschlagen. Deshalb wohl floss ihm beides so virtuos leicht aus der Feder: Sex und Höllenfahrt.

Und keiner kann das wie Großmeister Currentzis: Wenn seine Geiger im Stehen loslegen, in die Luft springen und er sie mit dem Taktstock beschwört, ja bedroht wie der Magier in Disneys „Fantasia“, dann erlebt man wirklich eine rasante, ja schwindelerregende Höllenfahrt. Dass da die Präzision in manchen Details mitunter auf der Strecke bleiben muss, ist klar – und wen stört’s denn auch. Die Interpretation ist weltweit einmalig, hinreißend, aufregend – und sie illustriert das Thema, diese tolle Story, besser als das irgendwer sonst könnte.

Fulminant und geradezu ungezügelt in den Fortissimi war diese Interpretation. Und dann doch wieder subtil und ungeheuer feinfühlig in den leiseren, zarteren Passagen, heiter in den komischen Partien um die Bauernhochzeit zwischen Masetto und Zerlina – denn schließlich wurde dieses Stück von Mozart-Da Ponte als „Dramma giocoso“, als „verspieltes, spielerisches, scherzhaftes, komisches Drama“ etikettiert. Trotz Totschlag und Höllenfahrt also keine Opera Seria, höchstens (wie ja auch die „Cosi fan tutte“) eine Parodie auf Opera Seria.

Der aus Detroit stammende Kenneth Tarver gab dem glücklosen Don Ottavio all die herzergreifende Empfindsamkeit und liebende Hingabe an die arme Donna Anna, die diese verdient – mit subtil eingesetztem tenoralem Schmelz, einer überaus wohlklingenden Stimme, perfekt dosierten Höhen und Zurückhaltung, wo andere Tenöre mit Brillanz aufgetrumpft hätten. Zum Schmelzen schön und berührend seine zärtliche Arie an Donna Anna im 1. Akt „Dalla sua pace“. Hier zeigte sich, dass er und sein Orchester nicht nur den Teufelsritt, sondern auch jene subtilen Töne beherrschen, die diese berühmte Passage erfordert.

Und diese Donna Anna: die russische Sopranistin Nadezhda Pavlova war – obwohl auch alle Kolleginnen und Kollegen dieser Aufführung umjubelt wurden – der unbestrittene Star des Abends. Sie erhebt sich mit ihrer außergewöhnlichen Intensität und vokalen Beherrschung klar über ihre ebenfalls ausgezeichneten Sängerkollegen. Ihr Belcanto ist makellos, auch in den heikelsten Passagen hat die stimmliche Schönheit Vorrang vor der durchaus auch erforderlichen Vokalakrobatik.

Sängerisch war dieser Abend reich an Höhepunkten: Dieser Don Giovanni des von der griechischen Insel  Rhodos stammende Dimitris Tiliakos hat zwar stimmlich – gerade im Kontrast zur Donna Anna – keinen herausragenden Eindruck hinterlassen, doch mit seinem starken, samtenen Bariton verkörperte er glaubwürdig den schmierig-verlogenen Verführer. An seiner Seite Leporello, verkörpert durch den amerikanischen Bassbariton Kyle Ketelsen in seinem Rollendebut. Sein großer Auftritt ist natürlich die Präsentation der berühmten „Leporello-Liste“, die ihm der Dirigent in einer scherzhaften Vignette zur Verfügung stellt: Sein als munteres Liedchen interpretiertes und doch kraftvoll vorgetragenes „Madamina…“ ist verspielt-ironisch, und überzeugend versteht er, sein durchaus zwiespältiges Verhältnis zu seinem Herrn auf die Bühne zu bringen: Zwischen unverhohlener Bewunderung und (wohl nicht ganz ernst gemeinter) moralischer Entrüstung.

Die Donna Elvira der jungen italienischen Sopranistin Federica Lombardi vermochte kaum weniger zu begeistern als ihre Bundesgenossin (Rivalin?) Donna Anna: Mit warm strömender und doch wendig die Klippen der Mozart‘schen Belcanto-Passagen meisternder Stimme sang sie sich in die Herzen des Publikums.

Auch das rustikale Brautpaar glänzte:  Polternd, mit prononciert maskulinem Gehabe und selbstsicher-männlicher Baritonstimme konfrontierte der Masetto des slowenisch-spanischen, in der Schweiz geborenen Ruben Drole den skrupellosen Aristokraten Don Giovanni, der ihm die frischgebackene Ehefrau auszuspannen versucht.

Entzückend frisch, mit strahlender Stimme und fast noch mädchenhaft die Zerlina der Österreicherin Christina Gansch. Don Giovanni bemüht sich nach allen Regeln der Kunst mit seinem wunderschönen „La ci darem la mano“ die unschuldige, aber für die schönen Dinge des Lebens durchaus empfängliche Zerlina in sein mit dick aufgetragenem Understatement als „Häuschen“ („Casinetta“) bezeichneten Schloss zu ent- und daselbst zu verführen. Entzückend, wie die Zerlina der Christina Gansch ihren Zwiespalt zwischen Loyalität zum Bräutigam und unverhohlener Neugier auf das ihr angebotene Abenteuer mit ihrem unvergleichlichen „vorrei e non vorrei“ (ich will und will doch nicht) reagiert und dies auch mit gleichsam tänzerischen Bewegungen verkörpert.

Gruselig als Stimme aus dem Jenseits der Komtur des namhaften britischen Bassisten Robert Lloyd, der in der Friedhofszene gewissermaßen noch Anlauf zu holen schien, der aber dann in der finalen Bankettszene zu düster-gewaltiger Hochform auflief, so dass es einem kalt den Rücken herabrieselte.

Der phänomenale musicAeterna-Chor vermochte mit seiner perfekt koordinierten Harmonie ebenso zu begeistern wie das musicAeterna Orchestra, das sich wie immer gewaltig ins Zeug legte. Currentzis selbst dirigierte wie ein Besessener – und das Resultat hob einen buchstäblich aus dem Sessel.

© Astrid Ackermann

Kleine Gags gab es viele in dieser sparsamen halbszenischen Inszenierung – beispielsweise als der Bauernchor in bunten Gewändern (die sich fröhlich abhoben vom klösterlichen Schwarz der üblichen Chor- und Orchestertenues bei Currentzis) aus dem Zuschauerraum Richtung Bühne strebte.

Und, vor allem, am Schluss der große, finale Gag: Abrupt endete die Oper nach Giovannis Höllenfahrt, wie dies ja auch in der Prager Urfassung der Fall war, mit den Schlussakkorden nach dem schrecklichen Schrei, mit dem Don Giovanni zur Hölle fährt. Applaus (donnernder). Doch danach geht’s plötzlich dennoch weiter – als nämlich alle anderen wieder auf die Bühne kommen ihr fröhlich-erleichtertes Oktett singen und erklären, was sie nunmehr tun werden: Der arme Don Ottavio muss noch (mindestens) ein Jahr warten auf seinen „tesoro“ Donna Anna – und wer weiß, ob er sie dann kriegt, denn eigentlich hätte sie doch lieber den Bösewicht gehabt. Donna Elvira gibt auf und geht ins Kloster – und Leporello tut (allerdings mit Abstrichen), was er schon ganz am Anfang der Oper angedeutet hatte: „Non voglio piu servir, no“ (ich will nicht länger Diener sein). Aber die starren sozialen Verhältnisse verunmöglichen seinen dort angedeuteten Wunschtraum „voglio fare il gentiluomo“ (ich will den Gentleman spielen), und stattdessen geht er jetzt ins Wirtshaus und sucht sich dort einen „padron miglior“, einen besseren Herrn. Viel Glück.

Dr. Charles E. Ritterband, 10. September 2019,
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Don Giovanni: Dimitris Tiliakos
Leporello: Kyle Ketelsen
Donna Anna: Nadezhda Pavlova
Don Ottavio: Kenneth Tarver
Donna Elvira: Federica Lombardi
Il Commendatore: Robert Lloyd
Masetto: Ruben Drole
Zerlina: Christina Gansch
Regie: Nina Vorobyova
Kostüme: Svetlana Grischenkova
Licht: Alexey Khoroshev

 

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