The Philadelphia Orchestra in der Elbphilharmonie: Die Musik ertönt unfassbar zart, lyrisch, weich und voller Gefühl

The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin,  Elbphilharmonie Hamburg

Foto: Jan Regan / Philadelphia Orchestra (c)
Elbphilharmonie
Hamburg, 29. Mai 2018
The Philadelphia Orchestra
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
Jean-Yves Thibaudet, Klavier

Leonard Bernstein, Sinfonie Nr. 2 für Klavier und Orchester »The Age of Anxiety«
Peter I. Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36,
Edward Elgar [als Zugabe], Salut d’amour op. 12

von Sebastian Koik

Das Philadelphia Orchestra gilt als eines der fünf bedeutendsten Orchester der USA, Yannick Nézet-Séguin als einer der besten und spektakulärsten Dirigenten. Und hat Tschaikowsky Sie je enttäuscht? Vermutlich nicht! Damit sind alle Zutaten für einen musikalisch starken Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie Hamburg gegeben. Und tatsächlich wird die zweite Konzerthälfte zu einem großen und beglückenden Erfolg!

Hier steht Tschaikowskys Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36 auf dem Programm. Alleine schon Yannick Nézet-Séguin beim Dirigieren zuzusehen macht enorm Spaß. In den Tutti arbeitet er mit raumgreifenden Gesten, springt wie ein Paket pure Energie von links nach rechts und zurück. Sein Körpereinsatz ist maximal.

Und das ist nicht nur Show. Dieser Mann lebt die Musik und holt mit seinem fast schon wahnsinnig wirkenden Tanz alles aus dem Orchester heraus. Die Tutti sind extrem stark! Kraftvolle Passagen, in denen alles stimmt. Wahnsinnig gut.

In den langsameren Passagen des ersten Satzes atmet das ganze Orchester einen gemeinsamen Rhythmus voller Frieden.

Das Orchester begeistert durchweg mit Intensität, Klangschönheit und einer schönen Prise Drama, Spektakel und feinstem Pathos. Die Geigen spielen herrlich scharf. Die musikalische Spannung ist groß, keine Sekunde wird es langweilig. Dieser erste Satz ist perfekt!

Im langsamen zweiten Satz, wundervoll komponiert von Tschaikowsky und kongenial von den amerikanischen Gästen umgesetzt, macht sich im Zuhörer ein inneres Grinsen und Freude breit. In den Unisono-Passagen singt das Orchester herrlich schön mit einer vereinten großen Stimme. Man ist vor Schönheit gerührt. Was für prachtvolle und berührende Melodien! Was für herrliche Momente! Daniel Matsukawa spielt ein traumhaft lyrisches Fagott!

Später im Pizzicato zupfen alle Streicher wunderbar präzise und mit großer Leichtigkeit und Schönheit. Was für ein fein-elegantes Zupfen, vollendet artikuliert, packend, teilweise faszinierend leise – als wollten sie die Akustik der Elbphilharmonie austesten! Die Querflöten spielen herrlich frisch-lebendig. Das alles macht gewaltig großen Spaß!

Yannick Nézet-Séguin leitet seine Musiker zu großen und überwältigend plötzlichen Dynamiksprüngen an. Die Amerikaner sind gerade noch massiv laut und wild – und können schon im nächsten Augenblick perfekt leise, zart und luftig klingen. Auch dramatische Steigerungen gelingen rasant schnell. Die tief-sonoren Posaunen ertönen herrlich edel. Die Pauken sind präzise, die Streicher auch in den sehr schnellen Passagen immer präzise und souverän. Das Finale ist der Wahnsinn, voller Kraft und Energie!
In der Zugabe spielt das Philadelphia Orchestra Salut d’amour op. 12 von Edward Elgar, „because the world needs it“, weil die Welt es braucht, sagt Nézet-Séguin. Die Streicher bezaubern! Die Musik ertönt unfassbar zart, lyrisch, weich und voller Gefühl. Es ist herrlich tanzende Musik. Wunderschön. Die Interpretation ist vom Allerfeinsten. Das ist perfekte Schönheit.

Der Saal ist volle Freude und Liebe!

Leonard Bernsteins Sinfonie Nr. 2 für Klavier und Orchester »The Age of Anxiety« in der ersten Hälfte des Abends wird zwar gut vom Orchester und dem Pianisten Jean-Yves Thibaudet umgesetzt, das Stück selbst gefällt aber nicht wirklich.

Zwei aus der knappen Hundertschaft von begnadeten Musikern ragen besonders heraus: Der erste Paukist Don S. Liuzzi ist eine Attraktion des Abends. Selten fiel ein Paukist so sehr auf wie er. Er ist immer präzise auf den Punkt, spielt energisch, voller Leidenschaft, dosiert jeden Schlag perfekt. Seine Begeisterung ist ansteckend. Der nicht mehr ganz junge Herr wirkt unendlich jugendlich. Er spielt mit soviel reiner Freude, dass man glauben könnte, er stünde das erste Mal überhaupt auf großer Bühne – dabei werden es schon tausende Male sein. Das inspiriert!

Und der zweite ist eben Yannick Nézet-Séguin. Er dirigiert ohne Taktstock, aber mit extrem viel Ausdruck in Körperspannung, Armen, Fingern, Mimik. Und er lebt und tanzt Musik. Ein Tanz, den seine Orchester exzellent zu deuten wissen.

Im September 2018 kommt das Boston Symphony Orchestra erstmals in die Elbphilharmonie. Dann hat die Elbphilharmonie innerhalb von eindreiviertel Jahren alle fünf der Big 5, der traditionell berühmtesten Orchester der USA, zu Gast gehabt. Das dürfte ein weiterer Rekord der Elbphilharmonie sein.

Sebastian Koik, 30. Mai 2018,
für klassik-begeistert.de

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