Foto: © Daniela Matejschek
„Eigentlich schreckt mich der Begriff „Kultband“ ab. Ziemlich häufig handelt es sich um Kombos mit mäßigem musikalischem Talent, deren Fans vor allem ihren Hang zur Ironie zelebrieren. Bei den Tiger Lillies liegt der Fall anders. Sie sind einzigartig, provozierend, ziemlich irre – und absolut virtuos.“
Das Schloss, München, 21. November 2019
Konzert: The Tiger Lillies
von Gabriele Lange
Die Tiger Lillies lassen sich in keine Schublade sperren. Sie spielen mit großen Orchestern und komponieren eine Komödie über Mozarts Eheprobleme. Ihr Avantgarde-Cabaret-Punk passt in die Roaring Twenties genauso wie in einen Tim-Burton-Film. Und Bert Brecht hätte sie sicher gern in einer Inszenierung eingesetzt.
Die Trennung zwischen E- und U-Musik ist den Tiger Lillies herzlich egal. Sie haben mit dem Kronos Quartett ein Album eingespielt, das für einen Grammy nominiert wurde. Ein 30köpfiges Sinfonieorchester unterstützte sie bei dem Projekt „Urine Palace“. Sie haben Karl Kraus‘ „Letzte Tage der Menschheit“, Edgar Allan Poe – und den Struwwelpeter vertont. Und sie haben Musik für Aufführungen von Hamlet, Lulu, Woyzeck und für Felix Mitterers „Die Weberischen“ geschrieben, ein Stück, das sich mit den Machenschaften von Mozarts Schwiegerclan befasst. Anspruchsvolle Fans von Gothic Rock oder Punk zum Beispiel dürften an ihnen aber ebenso ihre helle Freude haben.
Heute stehen die Tiger Lillies im Münchner Theaterzeit „Das Schloss“ auf der Bühne – mit der Tour begehen sie das 30. Bühnenjubiläum. Und immer noch kleiden und schminken sie sich wie Geisterbahn-Darsteller auf einer Kirmes im 19. Jahrhundert.
Eigentlich schreckt mich der Begriff „Kultband“ ab. Ziemlich häufig handelt es sich um Kombos mit mäßigem musikalischem Talent, deren Fans vor allem ihren Hang zur Ironie zelebrieren. Bei den Tiger Lillies liegt der Fall anders. Sie sind einzigartig, provozierend, ziemlich irre – und absolut virtuos.
Kurt Weill und die angesäuselte Gouvernante
Man stelle sich eine Berliner Varietébühne der späten 1920er vor (Joel Greys Auftritt in Cabaret geht schon mal in die richtige Richtung). Ganz viel Kurt Weill und eine ordentliche Prise Punk dazu, etwas Jazz, Blues und Gypsy-Musik. Und jetzt noch an das Frühwerk von Tom Waits denken – aber statt der sonoren Säuferstimme hört man Falsett.
Die Stimme von Bandkopf Martyn Jacques ist … ungewöhnlich. Mal plärrt er wie ein trotziger Horrorclown, dann singt er brüchig und voller Gefühl oder klar und wohlklingend – und dann wie eine angesäuselte britische Gouvernante, der man was in den 5-Uhr-Tee getan hat. Dazu spielt er Akkordeon, Klavier – und eine Art Ukulele, die aussieht, als sei sie aus dem Kopf einer Gitarre gefertigt.
Einen Mini-„Bass“, eine singende Säge und ein Theremin sind die Instrumente von Adrian Stout, der von seiner Bühnenpräsenz her auch bei den Stones mitmachen könnte. Eine stoische Attitüde dagegen pflegt Jonas Golland. Mit seinem reduzierten Drumset, Glocken und anderen Gadgets legt er einen hocheffizienten Rhythmusteppich und sorgt für Soundeffekte.
Mit diesen spartanischen Mitteln entsteht eine intensive Atmosphäre – man vermisst das Orchester nicht. In den Texten geht es um Underdogs, um Drogen, um Krankheit und Tod – um alles, was man gern verdrängt. Man hört im Sitzen, es gibt eine Pause, die Band fokussiert sich auf die Musik, das Publikum wird nicht animiert oder angesprochen. Fast wie in einem klassischen Konzert. Bis Stout die Zuhörer auffordert, einen Refrain zu singen, der aus einem Wort besteht: „Drugs“. Das geht einigermaßen schief – die Songstruktur ist dafür zu kompliziert.
Die Hymne der Desillusionierten
Die Tiger Lillies spielen einige Stücke vom neuen Album „Devil’s Fairground“, das sie mit dem Berg Orchestra eingespielt haben. Atmosphärisch bewegt sich das zwischen einem Tim-Burton-Film in viktorianischem Setting und der Netflix-Serie „Peaky Blinders“ (hier geht es um eine Gang im Birmingham der Zwischenkriegszeit). Dazu gibt es ungewöhnliche, reduzierte, elegante und sehr eigenständige Versionen von Song-Klassikern. „Is that all there is“, die Hymne der Desillusionierten, wurde durch Peggy Lees mutige Interpretation berühmt. Martyn Jacques bringt den Song kühl und sarkastisch. Klar, leise und traurig: „Send in the clowns“. Und „Somewhere over the rainbow“ klingt plötzlich nicht mehr abgenutzt, sondern frisch und neu.
Auch wenn ein Zelt ganz gut zum Stil der Tiger Lillies passt – die Band gehört eigentlich in ein (großes) Theater. Das Publikum – mehrheitlich 50plus – jedenfalls hätte auch im Prinzregententheater sitzen können. Allerdings sollte man die Wirkung dieser anspruchsvollen Verrückten nicht unterschätzen: Die Anfangzwanzigerin neben mir war ebenfalls restlos begeistert. 30 Jahre sind noch lange nicht das Ende. Hoffentlich.
Gabriele Lange, 21. November 2019, für
klassik-begeistert.de