Auf geht's, Hamburg Ballett... ich kann nicht mehr klatschen!

The Times Are Racing, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Musikalische Leitung Vitali Alekseenok   Staatsoper Hamburg, 28. September 2024 Premiere

Die Choreographen: Demis Volpi, Hans von Manen, Jo Ann Endicott (für Pina Bausch), Justin Peck (Foto: RW)

PREMIERE

The Times Are Racing

Pina Bausch: Adagio
Hans von Manen: Variations for Two Couples
Demis Volpi: The thing with feathers
Justin Peck: The Times Are Racing

Musik: Gustav Mahler; Benjamin Britten, Astor Piazzolla u.a.; Richard Strauss; Dan Deacon

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Musikalische Leitung Vitali Alekseenok


Staatsoper Hamburg,
28. September 2024 PREMIERE

von Harald Nicolas Stazol

Neun Vorhänge, man lässt es nicht von der Bühne, das Hamburger Staatsballett, schon vorher, bei jedem Akt 10 Minuten Applaus, „Mir tun die Hände weh“ scherzt man eine Reihe vorne, schließlich gilt es etwa Hans van Manen mit Ovationen zu überhäufen, aber zunächst den neuen Intendanten Demis Volpi, der das Szepter nun in die Hand bekommen hat, und durch den königsblauen Samtvorhang nach vorne tritt, und eine kleine, bescheiden-ergreifende Rede hält. Da ist schon so ein SPIRIT im Raum, ich denke noch, „Was muss der Mann für brains haben!“
Und da stehen wir, da steht die Haute Volée der Hanse erst im Foyer bei Champagnerhäppchen, nun alle auf rotem Samt, denn nun haben wir unsere Plätze eingenommen, und als der Mann dort auftritt schon donnernde Willkommensovationen, der Intellektuelle mit der gar nicht sehr tragenden Stimme, „Ich bin der neue Intendant“ – wen das nicht anrührt, der kann weiter golfen gehen!

Was nun folgt, in vier Kapiteln, vierfach restauriert, Hans van Manen, 93, ist da, Pina Bausch ist da, leibhaftig – jetzt sagen Sie, der Stazol ist verrückt geworden, und anderen ist es gar nicht aufgefallen, dass sie da aufscheint in ihrem eigenen Stück, Mahler 10, die inverse Inversion, oder eine Geistererscheinung. Die Jugend kennt sie nicht mehr, wie auch? Helmut Newton photografiert die Königin des Tanzes einmal, da ist ihr ganzer Leib in einem Riesenkrokodil aus Bühnen-Pappmaché, und man sieht nur ihre Beine, ich habe es an der Wand, denn: SIE kannten sie nicht.

The Times Are Racing: Matias Oberlin und Futaba Ishizaki, Caspar Sasse und Ensemble (Fotos: Kiran West)

Ich schon.

Denn da tanzt sie, in ihrer eigenen Inszenierung, liebevollst wieder zum Leben erweckt, links der Stuhl, der immer sein muss, ja, man hat eine Ballerina in ihr schwarzes Kleid gewandet und Pinas strengen, schwarzgrauen Zopf, und so tanzt sie eben mit, hohes Glück dem Rezensenten, denn ich habe sie ja nur einmal im Wuppertaler Kino tanzen gesehen!

Und eben Regieführen, zum 25. Jubiläum ihrer Truppe, in Wuppertal, mit meinem Photographenfreund Dieter Blum, zwei Wochen lang, der Stern hatte uns entsandt.

„Mir sind zu viele Gefühle im Raum“, da schlug sie in der Kantine des Theaters ihre knochigen Hände vors Gesicht, und sprach zwei Wochen lang nicht mit mir. Aber ich durfte überall mit. Und ganz zum Schluss küsste sie uns, die Große, die Unerreichte, Dieter und mich auf die Wangen.

Und so ist der erste Satz des Abends eine Hommage an die Bausch, auch hier muss ich mich wohlmeinend abgrenzen von der hier geäußerten Ansicht, es sei nicht eine ihrer besten Inszenierungen gewesen: In Wuppertal probten wir noch in knöchelhohem, vorgewärmtem Wasser! Kein Witz, eine Inszenierung aus den 65ern, fürs Jubiläum eben rekreiert –

und jetzt eben wird sie selbst rekreiert!

Variations for Two Couples: Madoka Sugai mit Alexandr Trusch, Ida Praetorius und Matias Oberlin  (Fotos: Kiran West)

Das Ganze zum wunderfeinen, dem Tode schon so nahen Adagio aus Mahler 10, die ja nie fertiggestellt, „Gott erbarme Dich meiner!“ steht im Manuskript geschrieben, da betrügt ihn seine Frau gerade mit Walter Gropius. Und dass wir, „sheer serendipity“ durch den reinsten Zufall, dass wir gerade einen Tag früher bereits in der Philharmonie gehört haben, dazu komme ich noch, dem Freitag – 2-mal Mahler in 24 Stunden, einmal vom NDR Elbphilharmonie Orchester, einmal vom Hamburger Staatsorchester? „When the battle’s lost and won!“, was für eine Bataille, und ich würde mal sagen: Unentschieden. Wunderbarschön aber beide.

Dafür dem Staatsballett und -Orchester nicht nur Lob und Preis, nein: Dank und Demut.

Applaus, geschlagene 11 Minuten lang. Und womit? MIT RECHT!

Parte Deux, Hans van Manen, tatsächlich erscheint er doch auf der Bühne, es ist, als stünde dort plötzlich Georges Balanchine:

„Die Choreografie von 2012 ist ungebrochen erotisch elegant, schlicht und doch hoch virtuos, mit einem untrüglichen Gefühl fürs Timing und einem Augenzwinkern an den richtigen Stellen.“ Eine liebende Apotheose, offenbar so alterslos wie der Choreograph, kaum Bühnenbild, der erste Pas de deux des Abends, ein, zwei bemerkenswerte kommen noch, das ganze Corps de Ballet sehr professionell und ausgewogen, und immer kraftvoll-elegant zumal, alle mit „hohem Bein“.

The thing with feathers: Jack Bruce und Silvia Azzoni (Fotos: Kiran West)

Und dann „The Times are Racing“, da wird zum donnernden Techno-Ambient von Dan Beacon – man glaubt sich im FRONT in Hamburg 1992 – ein so gewaltiger Pas de deux von zwei Männern gegeben, vollsynchron, es müssen Louis Musin und der noch in der letzten Saison als Aspirant geführte Caspar Sasse gewesen sein. Nach ungläubigen stummen Staunen dann doch 3 Minuten Szenenapplaus. Und noch ziemlich neu, das Ganze: 2017 beim New York City Ballett uraufgeführt.

Parte Trois entnehme ich vollständig der Website:

„Mit „The thing with feathers“ stellt sich Demis Volpi dem Hamburger Publikum vor. Der Titel des Balletts, das 2023 uraufgeführt wurde, ist dem Gedicht „Hope is the thing with feathers“ von Emily Dickinson entlehnt. Das Stück für 14 Tänzerinnen ist eine Geste der offenen Arme und eine Huldigung der Individualität, die eingebettet ist in den Glauben an eine von Fürsorge und Mitmenschlichkeit durchzogene Gemeinschaft. Zu Richard Strauss’ „Metamorphosen“ entfacht Volpi ein berührendes Wechselspiel aus Trauer, Freude und Lust, das die Momenthaftigkeit des Tanzes voller Optimismus beleuchtet.

Dirigent Vitali Alekseenok, der diese Arbeit als musikalischer Leiter am Ballett am Rhein in Düsseldorf betreut hat, beschreibt Strauss’ „Metamorphosen“, ein Werk für 23 Solostreicherinnen, als „eine Klangwolke, in die man eintaucht und das Zeitgefühl verliert. Volpis Choreografie ist für ihn die Sichtbarmachung der Musik: Einzelne Linien der Klänge verbinden sich mit der Form des menschlichen Körpers. Klang und Körper verstärken sich gegenseitig.“

In beiden Pausen der 85 Minuten beseelte Gesichter, man wird förmlich hungrig, auf zum vorreservierten Carpaccio also, zu Stärkung und Réchèrche, und dort am Stehtisch eine Werberin mittleren Alters, „Wie ergreifend, die wahre Liebe!“ und ich „Differo! Die Ware Liebe!“ – „Aber das sage ich doch eben!“ – zum Glück erklingt das zweite Klingeln.

Und, als sie alles gegeben haben, geben wir eben alles, und klatschen und klatschen und klatschen und klatschen!…

…und schön ist es, alle neun Mal in bunten Farben, dieses Spalier an schönen Künstlern, das unserer Stadt zu Weltruhm und Weltrang gleichermaßen gereicht: Das Hamburger Staatsballett.

Harald Nicolas Stazol, 1. Oktober 2024,  für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

The Times Are Racing Staatsoper Hamburg, 28. September 2024 Premiere

Carl Orff, Trionfi, Trittico teatrale (1953) Staatsoper Hamburg, Premiere B, 25. September 2024

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