Christopher Evans Darstellung in Neumeiers Ballett Tod in Venedig erschüttert die Seele

Tod in Venedig, Ballett von John Neumeier  Die zweite Besetzung, Staatsoper Hamburg, 12. Februar 2025

Lennard Giesenberg (Tadzio) und Christopher Evans (Gustav von Aschenbach) (Foto: RW)

Mit einem Mal ist Goethes Gedicht Nur wer die Sehnsucht kennt kein Kitsch mehr, wie als Schüler wohl manchmal gedacht wurde. Es ist bei Christopher Evans die von Goethe beschriebene, im Inneren brennende Sehnsucht, die Aschenbachs Herz die tödliche Grenze überschreiten lässt.

Tod in Venedig, ein Totentanz von John Neumeier nach der Novelle von Thomas Mann

Musik: Johann Sebastian Bach und Richard Wagner, am Klavier: David Fray

Choreographie, Inszenierung und Lichtkonzept:  John Neumeier, Bühnenbild:  Peter Schmidt

Die zweite Besetzung, Staatsoper Hamburg, 12. Februar 2025

von Ralf Wegner

Es gibt Aufführungen, die einen geradezu flach legen. Es war nicht überschwängliche Begeisterung, nicht innere Beglückung oder die Faszination des Tänzerischen, welches dieser Ballettabend hinterließ; es war tiefe, die Seele erschütternde Betroffenheit, die stumm macht.
Der 30-jährige Christopher Evans hat mittlerweile eine darstellerische Reife erlangt, die weit über tänzerisches Können hinausgeht und ihn in die Riege der großen Menschendarsteller auf der Bühne katapultiert. Mit welcher Perfektion und dramatischen Überzeugungskraft er den in der Lebensmitte stehenden Gustav von Aschenbach gestaltet, fesselt von der ersten bis zur letzten, apotheotischen Minute. Er gleicht darin Tristan, der ebenfalls vor Sehnsucht nach dem Vergangenen und dem Unerreichbaren am gebrochenen Herzen stirbt.

Mittlerweile weiß man, dass es so etwas gibt, eine akute, stressbedingte, oft tödliche Herzmuskelschwäche, die nach dem japanischen Arzt Takotsubo benannt ist. Evans stirbt auf der Bühne nicht an der Cholera oder einer anderen Infektion. Eine solche mag als Basis für das Zerbrechen des Herzens vorhanden gewesen sein. Es ist bei Evans aber die unerfüllbare Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem, der er sich am Ende voll bewusst und damit dem Tod anheim gibt.

Währenddessen kam mir das Gedicht von Johann Wolfgang Goethe in den Sinn: Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide! Allein und abgetrennt von aller Freude, seh’ ich ans Firmament nach jener Seite. Ach! Der mich liebt und kennt, ist in der Weite. Es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!

 Mit einem Mal ist das kein Kitsch mehr, was man als Schüler wohl manchmal dachte. Es ist bei Christopher Evans die im Inneren brennende Sehnsucht, die sein Herz die tödliche Grenze überschreiten lässt.

Alessandro Frola (Friedrich der Große), Madoka Sugai und Jacopo Bellussi (Aschenbachs Konzepte), Charlotte Larzelere (La Barberina) (Foto: RW)

Auch sonst wurde ausgezeichnet getanzt. Nur zwei Tänzer möchte ich herausgreifen. Zum einen den blondlockigen Lennard Giesenberg, von dem ich nach den kurzen Ausschnitten während der Ballettwerkstatt nicht eine so einfühlsame, überzeugende Leistung erwartet hätte und zum anderen Alessandro Frola (Friedrich der Große), der wie ein das Leben liebender Jungspund einem Rokoko-Gemälde von François Bouchet entstieg. Das preußisch-strenge Flötenkonzert-Ambiente ließ er dabei weit hinter sich.

Dr. Ralf Wegner, 13. Februar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Tod in Venedig, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 9.Februar 2025

Hamburg Ballett, Tod in Venedig, John Neumeier, Staatsoper Hamburg, 19. Januar 2022

Benjamin Britten: Der Tod in Venedig, Oper in zwei Akten Wiener Volksoper, 28. Mai 2022

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