Ich bin durch die musikalische Atmosphäre elektrisiert

Toshio Hosokawa (*1955), Hanjo, Oper in einem Akt  Haus der Kunst, München, 5. Mai 2023

Foto: Hanjo © Wilfried Hösl

Haus der Kunst, München, 5. Mai 2023 PREMIERE

Toshio Hosokawa (*1955)
Hanjo

Oper in einem Akt (sechs Szenen) – 2004

Eine Kooperation der Bayerischen Staatsoper mit dem Haus der Kunst

Musikalische Leitung Lothar Koenigs
Münchner Kammerorchester (MKO)

Inszenierung und Bühne   Sidi Larbi Cherkaoui
Szenografie   Rirkrit Tiravanija
Kostüme   Yuima Nakazato
Licht   Michael Bauer, Christian Kass
Dramaturgie   Katja Leclerc

Hanako, a mad girl   Sarah Aristidou
Jitsuko Honda, a spinster   Charlotte Hellekant
Yoshio, a young man   Konstantin Krimmel

Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Eastman, Antwerpen   Helena Olmedo Duyynslaeger, Maryna Kuchshova, Dayan Ahmadgliev, Pau Aran, Andrea Bouothmane, Robert „Robbie“ Moore, Luca Scaduto, Patrick Williams „Twoface“ Seebacher

von Frank Heublein

An diesem Abend findet im Hauptsitz des Unternehmens Brainlab die Auftaktveranstaltung Aufhorchen des Ja, Mai Festivals der Bayerischen Staatsoper statt.

Die Geschichte „Hanjo“ wurde ursprünglich für das Nō Theater im Japan des 13. Jahrhunderts geschrieben. 1955 versetzte der japanischer Schriftsteller Yukio Mishima die Geschichte ins zeitgenössische Japan. 2004 schließlich schrieb Toshio Hosokawa Mishimas Geschichte zur Kammeroper um.

In seiner etwa siebzig Minuten dauernden auf Englisch gesungenen Kammeroper ist es die Geisha Hanako, eine gut und streng ausgebildete japanische Multikünstlerin, die täglich auf einem Bahnhof auf ihren Geliebten wartet. Im Auseinandergehen tauschten sie ihre Fächer als Erkennungszeichen. Im Warten verliert Hanako ihren Verstand, ist außerstande zu arbeiten. Die alleinstehende Künstlerin Jitsuko nimmt sie auf.

Als eine Zeitung über die Wartende berichtet, findet Yoshio die Geliebte. Jitsuko labt sich an Hanakos Liebe, selbst wenn sich diese Liebe nicht auf sie selbst bezieht. Sie versucht daher mit allen Mitteln ein Treffen zwischen Yoshio und Hanako zu verhindern. Yoshio gelingt es dennoch zu Hanako vorzudringen.

Hanako erkennt in Yoshio ihren Geliebten nicht. Selbst der Fächer bringt sie nicht dazu, Yoshio als den Menschen anzuerkennen, auf den sie wartet. Für sie haben alle, die sie am Bahnhof sieht, tote Gesichter und genau diesen Ausdruck singt sie Yoshio ins Gesicht. Der Geliebte ihrer Vorstellung hat sich von der Wirklichkeit gelöst. Hanako nimmt ihr ewiges Warten wieder auf, sehr zur Befriedigung Jitsukos.

Hanako wird im Libretto als „mad girl“ bezeichnet, ein verrückt gewordenes Mädchen. Sarah Aristidous Sopran erweckt das um sich selbst Kreisende zum Leben, das den Abstand zur Welt, zum Leben aller Anderen beständig vergrößert. Sie singt glaubhaft in sich gekehrt, abwesend. Singt an allen Menschen vorbei, denn die reale Welt vermittelt ihr keinerlei Gefühl. Selbst in der Konfrontation mit Yoshio ist sie ihrer Vorstellung des geliebten Mannes näher als dem Mann vor ihr. Gerade das verleiht ihrer Stimme eine besondere Energie, die ich atemlos gespannt und ungläubig verfolge.

S. Aristidou, C. Hellekant, H.O. Duynslaeger, M. Kushchova © W. Hösl

Mezzosopranistin Charlotte Hellekant singt Jitsuko Honda prägnant, emotional, dynamisch und sehr präsent, in der Wirklichkeit stehend. Spür- und hörbar völlig anders als Hanako. Die Auseinandersetzung zwischen ihr und Yoshio ist ein emotionaler Höhepunkt der Oper. Inbrünstig flammend empfinde ich Hellekants Gesang, die ihre Motive klar gegenüber Yoshio benennt.

Bariton Konstantin Krimmel singt Yoshio sonor und kraftvoll. Offensichtlich ganz der Gegensatz dessen, was ihm Hanako vorwirft: ein totes Gesicht zu sein. Trotz des richtigen Fächers und aller Energie durchdringt er die Wand nicht, die Hanako in sich aufgebaut hat.

Das Münchner Kammerorchester spielt präzise, pulsierend und spannungsgeladen. Im Wesentlichen gibt es drei Klanggruppen: Streicher, Bläser und Schlagwerk. Daneben Harfe und Celesta. Ich höre sie unterschiedliche Situationen beschreiben. Die Streicher laden im flirrenden Ziselieren das Warten auf. Die runden und zuweilen sehr tiefen Töne der Bläser bilden die Tonalität der agierenden Welt. Das Schlagwerk, insbesondere die japanischen Glöckchen und Triangeln, bilden den elektrisierenden Punkt, wenn sich diese beiden Welten aneinander reiben.

Der lange instrumentale musikalische Beginn wird von den Streichern bestimmt. In beiden dramatischen Höhepunkten, dem ersten Zusammentreffen von Jitsuko und Yoshio und dem zweiten von Hanako und Yoshio bestimmen Bläser und Schlagwerk den orchestralen Klang. Wie sagte der Komponist Tage zuvor im Gespräch mit Staatsopernintendant Serge Dorny: im Nō Theater ist ein wichtiges Bühnenelement eine Brücke. Diese Brücke interpretiert Toshio Hosokawa musikalisch als Tunnel zwischen Traum oder besser Wahn und Realität. Im Schlagwerk höre ich die Tonalität dieser Brücke.

K. Krimmel, H.O. Duynslaeger, M. Kushchova, A.B. Othmane © W. Hösl

Das Münchner Kammerorchester strahlt unter seinem Dirigenten Lothar Koenigs die Souveränität der andauernden Praxis in der Aufführung zeitgenössischer Musik aus. In der Pinakothek der Moderne finden regelmäßig Portraits lebender Komponisten und Komponistinnen statt.

Die Produktion ist eine Koproduktion zwischen dem Haus der Kunst und der Bayerischen Staatsoper. Die Oper soll über sich hinausweisen. Rirkrit Tiravanija, argentinischer Aktions- und Performancekünstler, sorgt für die Szenografie. Diese eröffnet weitere Kunstebenen.

Im rechteckigen Raum ist das Orchester an einer langen Seite platziert. Auf den beiden kurzen Seiten sitzt das Publikum. Ein großes Bühnenelement, das die Tänzer durch den Raum drehen, genauso wie die zwei Treppen, mithilfe derer die Protagonisten auf die Bühne gelangen. Eine niedrige Bank, alles ist aus durchsichtigem Plastik.

Ich fürchte, ich konnte nicht alle Ebenen wahrnehmen. Der spielende Sänger, der zugleich Teil der Tänzergruppe ist. Die beiden Sängerinnen. Alle drei werfen auf der aus durchsichtigem Plastik bestehenden Bühne spielende Schatten an der Wand, die dem Orchester gegenüberliegt. Die Handlung wird im Schattenspiel gedoppelt.

Die drei Singenden haben tänzerische Doubles aus der Compagnie Eastman aus Antwerpen. Diese verkörpern im tänzerischen Ausdruck den Vulkan der Emotionen, die das Schauspiel nicht zeigen darf. Geishas werden dazu erzogen, jederzeit die Façon zu wahren. Die Tänzer und Tänzerinnen bringen das Innere der handelnden Personen durch den Tanz auf einer zusätzlichen künstlerischen Ebene zum Vorschein.

Der Mond über dem Orchester, anfangs voll ange- und erstrahlend. Im Laufe der Aufführung wird der Voll- zum Neumond. Ein Symbol dessen wie endgültig Hanako in ihrer Welt des Wartens versinkt?!

Ich bin durch die musikalische Atmosphäre elektrisiert. Bin glücklich überfordert ob der Impulse der vielen Dimensionen, die mir die emotionale Wirklichkeit der Handelnden und der Wartenden impulsiv kraftvoll vermittelt.

Zugleich wird der Opernraum jenseits der Aufführungen als Ausstellungsraum der zeitgleich organisierten Ausstellung Rirkrit Tiravanijas im Haus der Kunst genutzt. Besucher können eine Teezeremonie besuchen, bei der eine Person an einer teilnimmt, die anderen dabei zuschauen. Kunstformen verschmelzen. Perspektiven wechseln. Was das daraus Entstehende, das Neue ist, dürfen die Besucher für sich selbst erspüren.

Serge Dorny benennt das im Presserundgang zur Ausstellung mit Tiravanija vor der Premiere als „Entdecken neuer Formen“ („exploring forms“). Nur das Stillstehen von Kunst geht schief, ist falsch. Jegliches Voranschreiten ist richtig („step forward anyhow“). Rirkrit Tiravanija sagt über seine ausgestellte und in der Oper eingesetzte Kunst: Seine Kunst emergiert in Zeit und Raum („pops up in time and space“). Sie hat „a kind of presence and absence everywhere” (eine Art gleichzeitiger An- und Abwesenheit überall). „It’s a ghost“, darin sieht er Geisterhaftes. Ich begreife für mich: das Ungreifbare berührt mich vielschichtig. Hanjo ist für mich eine tiefe intensive Erfahrung!

Was bringt den Staatsopernintendanten dazu, ein nach meinem Verständnis zentrales künstlerisches Ziel seiner Intendanz zu begraben? Es scheint kein Geld dafür da zu sein. Die Bayerische Staatsoper unterliegt harten Sparmaßnahmen. Serge Dorny versteckt sich nicht hinter dem Sparen, aber er ließ das Ja, Mai Festival fallen, so meine Interpretation des Nicht Ansprechens bei der Spielzeitvorstellung. Das wird schmerzhaft für ihn sein müssen. Jedenfalls ist es schmerzhaft für mich: das Ja Mai Festival ist programmatisch die Entwicklung der Oper als Band von Monteverdi als einer der Begründer dieser Kunstform zur heutigen Weiterentwicklung er Oper.

Ohne Hauptsponsor Brainlab hätte es diesen Abend nicht gegeben. Gut also, dass der Sponsor da ist. Die Anzahl der Hanjo Aufführungen hat sich von zwei auf sechs erweitert. Auch hier mein Schluss: der Hauptsponsor ermöglicht auch hier die größere Öffentlichkeit einer Festivalproduktion.

Ich sehe diese Abhängigkeit grundsätzlich kritisch. Denn egal wie ein Sponsor tickt, die Geldschere wirkt im Kopf von Künstlern und Programmierern.

Frank Heublein, 06. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert