„Trau deinen Ohren!“: Omer Meir Wellber überrascht mit völlig neuem Hör-Erlebnis

„Trau deinen Ohren“ SHMF  Gut Pronstorf, Kuhstall, 8. Juli 2025

Trau deinen Ohren-Maske, Photo: Andreas Ströbl

Schon vor Beginn des Konzerts am 8. Juli 2025 im Kuhstall des Gutes Pronstorf bei Lübeck sammelt Omer Meir Wellber Sympathiepunkte. Einige ältere Damen finden ihre Plätze im halbdunklen Raum nicht, halten den umtriebig im Kurzfrack umhergehenden Dirigenten für einen Saaldiener und bitten ihn um Hilfe. Der geleitet die Damen freundlich an ihre Stühle, um dann aufs Podium zu springen. Was folgt, ist in dieser Weise im besten Sinne unerhört!


Konzert im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals
vom 5. Juli bis 31. August 2025

Gut Pronstorf, Kuhstall, 8. Juli 2025

Wolfgang Amadeus Mozart, „Eine kleine Nachtmusik“ KV 525
Ralph Vaughan Williams, Fantasia on a Theme by Thomas Tallis
Iosseb Bardanaschwili, „Near and Far”
Antonín Dvořák, Streicherserenade E-Dur op. 22

Omer Meir Wellber, Leitung und Akkordeon
Streicherensemble der Volksoper Wien

von Dr. Andreas Ströbl

Höchste Konzentration durch kurzzeitige Blindheit

Gerade mal zwei Tage nach Eröffnung des Schleswig-Holstein Musik Festivals (https://klassik-begeistert.de/eroeffnungskonzert-schleswig-holstein-musik-festival-muk-luebeck-6-juli-2025/) führt Omer Meir Wellber, neuer Chefdirigent an der Hamburger Staatsoper, mit seinem Publikum ein ungewöhnliches Experiment durch. Für alle liegen Masken mit dem Schriftzug „Trau deinen Ohren“ auf den Plätzen.


Mit denen werden nun auf seine Weisung hin die Augen bedeckt und dann herrscht erst einmal meditative Stille. Akkordeonklänge setzen ein, sind nicht klar im Raum zu verorten; offenbar geht ein Musikant durch den Festsaal, der vor vielen Jahrzehnten noch der Heuboden für den darunterliegenden Kuhstall war.

Heimlich und offenbar auf Socken hat das Streicherensemble der Volksoper Wien auf der Bühne Platz genommen, denn mit einem Mal erklingt das Allegro aus Mozarts „Kleiner Nachtmusik“ in traumhafter Fröhlichkeit und Feinheit. Der Begriff „traumhaft“ trifft es auch deswegen, weil nichts vom bloßen Hören ablenkt und sich mitunter Traumbilder im Kopf der Zuhörer auftun. Es ist, als würde man zum ersten Mal die Raumwirkung eines Orchesters und die verschiedenen Quellen mehrstimmiger Musik in Gänze erleben. Abgesehen von der hohen Qualität der Wiedergabe durch die Musikerinnen und Musiker, erlaubt das viel bewusstere Hören gerade eines so bekannten Stückes ein weit tieferes Einsteigen in die Partitur.

Omer Meir Wellber und Rezensent, Photo: Regina Ströbl

Das wird noch übertroffen in der „Phantasie über ein Thema von Thomas Tallis“ von Ralph Vaughan Williams. Es entsteht eine tiefe innere Ruhe in der Zuhörerschaft, die sich tatsächlich gebannt und nahezu geräuschlos dem Klangerlebnis hingibt. Williams’ Liebeserklärung an die Musik der Tudorzeit erhält gerade in seiner Bearbeitung durch den komplexen orchestralen Klang weitere kontemplative Ebenen. Auf unruhige Menschen kann solch eine Musik – nur aufs Hören reduziert – eine geradezu therapeutische Wirkung haben.

Nah und fern – das ist also „Stereo“!

Ein Auftragswerk für das diesjährige Festival ist „Near and Far“ des georgischen Komponisten Iosseb Bardanaschwili, und gerade im ausschließlichen akustischen Erleben entfaltet sich die komplexe Raumwirkung dieses Werks. Der Tonsetzer spielt mit schroffen Abbrüchen, knallenden Einsätzen und unorthodoxer Verwendung der Instrumente, wie beispielweise dem Klopfen auf die Holzcorpora der tiefen Streicher. Dann wieder zitiert er volksmusikalische Elemente aus seiner Heimat; man ist manchmal an den späten Bartók erinnert.

Iosseb Bardanaschwili, Photo: Andreas Ströbl

Das erweiterte Hör-Erlebnis erlaubt auch bei einem solchen Werk, das mit Dissonanzen, ungewöhnlichen Stilkombinationen und dem Spiel mit Nähe und Ferne arbeitet, eine Intensität der Wahrnehmung, die bei konservativen Hörern vielleicht durch das „sehende“ Hören nicht so zugänglich wäre. So kann sich niemand dieser ganz besonderen, vielfältigen und immer wieder überraschenden Komposition entziehen. Vielleicht sollte man das mit der Maske öfter mal probieren!

Bardanaschwili ist anwesend und wird am Ende des Konzerts den begeisterten Beifall des Publikums entgegennehmen.

Man darf auch hinsehen – und Wellber in Aktion erleben

Im persönlichen Pausengespräch mit dem liebenswerten Dirigenten ergibt sich die Frage, wie die Ausführenden diese Art der reduzierten Kommunikation mit dem Publikum erleben. Wellber räumt ein, dass üblicherweise von den Augen des Publikums natürlich eine besondere Energie ausgehe, die das Orchester dann rezipiert. Gerade aber in der In-sich-Gekehrtheit entsteht eine neuartige, sich im Tieferen ausbildende Energieform, die sich dann eher subkutan mitteilt. Das Experiment funktioniert einfach glänzend! Aber nun will man Wellbers Dirigat dann doch mal mit allen Sinnen wahrnehmen und das ist ein einzigartiges Erlebnis.

Dvořáks Streicherserenade ist in ihrer unproblematischen Natürlichkeit und der heiteren Ausrichtung wie geschaffen für einen solchen Konzertabend; das Orchester bietet gerade in den Celli warmen, satten böhmischen Wohlfühlklang. Wellber leitet das Orchester nicht nur, er scheint die Töne herauszustreicheln, sticht mit dem Finger rasche Einsätze heraus, dann wirkt es, als flöge er wie ein Adler mit weiten Armbewegungen über der Musik, er biegt sich, kniet zuweilen fast, um sich dann wieder triumphal aufzurichten. All das tut er mit Konzentration und lächelnder, ja sprühender Begeisterung, die sich in Sekundenbruchteilen auf die Mitwirkenden und auch das Publikum überträgt.

Man denkt zuweilen an Otto Böhlers liebenswerte Karikaturen von Gustav Mahlers Dirigat – vielleicht hat der sich ähnlich lebhaft, mitreißend und ohne jede Schonung seiner selbst bewegt, um stets das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Denn mit Pose hat das alles nichts zu tun, dazu ist Wellber viel zu bodenständig und eben ein echter Vollblutmusiker.

Omer Meir Wellber und Orchester, Photo: Andreas Ströbl

Die Streicherserenade nimmt durch das Zwischenklatschen glücklicherweise keinen Schaden, dazu ist das Spiel zu sehr erfüllt von Lebensfreude und engagierter Liebe zum Werk. Eine Zugabe ist Ehrensache und Wellber spielt auf dem Akkordeon einen langsamen Tango von Astor Piazzolla.

Das ist so ein Konzertabend, der glücklich macht. Und Omer Meir Wellber ist ein Musiker, der in seiner sympathischen Nähe die harte Welt für ein paar Stunden erträglicher gestaltet. Danke!

Dr. Andreas Ströbl, 9. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Eröffnungskonzert Schleswig-Holstein Musik Festival MUK Lübeck, 6. Juli 2025

Auf den Punkt 17: Omer Meir Wellber besteht die Mozart-Mutprobe an der Staatsoper Hamburg klassik-begeistert.de, 22. Juni 2024

Omer Meir Wellber ab 2025 neuer GMD an der Staatsoper Hamburg klassik-begeistert.de, 24. Februar 2023

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