Un ballo in maschera © Andrea Macchia, Teatro Regio Torino
Diese großen Qualitäten konnte das jugendliche italienische Publikum ermessen, für das Muti die von mir besuchte Voraufführung bestimmt hatte. Bemerkenswert konzentriert und gebannt folgten die jungen Leute geradezu vorbildlich der Aufführung. Kaum einer von ihnen spielte am Handy herum, niemand störte oder brabbelte mit seinem Nachbarn. Und am Ende feierten die jungen Italiener das ganze Ensemble und allen voran Riccardo Muti wie einen König.
Un ballo in maschera
Musik von Giuseppe Verdi
Libretto von Antonio Somma
Besetzung:
Riccardo Piero Pretti
Renato Luca Micheletti
Amelia Lidia Fridman
Ulrica Alla Pozniak
Oscar Damiana Mizzi
Silvano Sergio Vitale
Samuel Daniel Giulianini
Tom Luca Dall’Amico
Musikalische Leitung Riccardo Muti
Regie Andrea De Rosa
Bühne Nicolas Bovey
Kostüme Ilaria Ariemme
Licht Pasquale Mari
Choreinstudierung Ulisse Trabacchin
Chor und Orchester des Teatro Regio Torino
Teatro Regio Torino, Turin, 19. Februar 2024
von Kirsten Liese
Das Teatro Regio in Turin ist kein so international berühmtes, historisches Logentheater wie die Mailänder Scala oder das Teatro di San Carlo in Neapel, aber ein Ort, an dem Riccardo Muti seine künstlerischen Visionen derzeit am besten umsetzen kann.
Denn hier kann er mit Regisseuren arbeiten, die sich in den Dienst der Musik und des Librettos stellen, frei von Zwängen und Zensur.
Mozarts Don Giovanni, in der seine Tochter Chiara Muti Regie führte, machte 2022 den Anfang. Für den Maskenball kam der Dirigent erneut mit dem Regisseur Andrea De Rosa zusammen, mit dem er 2008 schon einmal bei den Salzburger Pfingstfestspielen erfolgreich zusammenarbeitete.
Muti wäre nicht Muti, wenn er nicht auf einer Textpassage beharren würde, die anderswo gestrichen oder umformuliert wird. Und das aus gutem Grund: Wer aus den Worten „Ulrica, dell’immondo sangue dei negri“ („Ulrica, vom unreinen Blut der Neger“) ableitet, Verdi sei ein übler Rassist, hat das Stück nicht verstanden. Schließlich entlarven der Komponist und sein Librettist Antonio Somma mit dieser abschätzigen Bemerkung gerade den Rassismus des obersten Richters, dem sie die Worte in den Mund legen. Und in Alla Pozniak, deren Mezzosopran nicht nur eine stupende Größe, sondern auch eine dunkle schöne Färbung besitzt, hat die Wahrsagerin eine ideale Sängerdarstellerin gefunden.
Schon nach einer konzertanten Aufführung der Oper vor einem halben Jahr in Chicago bescherte Mutis Festhalten an dem Satz gleichwohl einen medialen Aufreger. Aber das konnte den stoischen, erfreulich kompromisslosen Maestro nicht davon abhalten, weiter zu seinen Überzeugungen zu stehen.
Bei alledem erscheint mir die Oper dank seiner packenden Interpretation in einem neuen Licht: Wie konnte es nur sein, dass mir das elegische herrliche Cellosolo in Amelias Arie „Morrò, ma prima in grazia“ in bisherigen Aufführungen entgangen war, oder auch der zärtliche Zwiegesang von Flöte und Harfe in Renatos Cabaletta „Eri tu che macchiavi quell’anima“? An solchen Stellen zeigen sich die Früchte der intensiven Probenarbeit eines Dirigenten, der minutiös mit allen Mitwirkenden an Feinheiten probt.
Am deutlichsten wurde der Unterschied zu anderen Interpretationen in jenem Moment, in dem Renato die Verschwörung gegen den Rivalen um die Liebe seiner Frau in die Wege leitet. Mit geballter Faust gibt der Maestro da den Einsatz zu Paukenschlägen im dreifachen Fortissimo, die in ihrem Furor selbst eine alte Karajan-Aufnahme in den Schatten stellen. Da donnern die Schläge so zornerfüllt in die gesungenen Passagen hinein wie in Mutis einmaligen Wiedergaben vom „Dies Irae“ in Verdis Requiem.
Regisseur De Rosa zeichnet das Drama einer Liebe zwischen dem Gouverneur Riccardo und Amelia, der Frau seines Sekretärs Renato, ohne Transfer in die Gegenwart nach. Mit großer Wahrhaftigkeit und einfachen Gesten durchleben die trefflichen Sängerprotagonisten ihre teils widerstreitenden Gefühle.
Zu den besonders starken Szenen zählt jene auf dem Galgenberg, in der Amelia – hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe für Riccardo, moralischen Bedenken und Schuldgefühlen gegen ihrem Mann – dem Drängen des Geliebten nicht länger widerstehen kann.
Lidia Fridman ist eine Amelia mit einer imposanten Stimme. Nicht immer führt sie ihren Sopran schlank bis in die Spitzen, und ihr Vibrato tönt etwas eng, aber wie sie jedes Wort ihrer Arie „Morrò, ma prima in grazia“, in der sie ihren unversöhnlichen Mann anfleht, noch einmal ihren Sohn sehen zu dürfen, durchlebt, rührt stark an. Mit Piero Pretti hat sie einen Riccardo an ihrer Seite, der sich mit dem großen Schmelz seiner Stimme und Höhensicherheit als ein neuer Stern am Himmel der Tenöre empfiehlt. Luca Micheletti lehrt als Renato das Fürchten, wenn er die Verschwörer Tom und Samuel für sein blutiges Vorhaben einbestellt.
Unter dem übrigen, bis in kleinste Nebenrollen exquisit besetzten Ensemble sei Damiana Mizzi als Oscar hervorgehoben, schlafwandlerisch sicher in ihren Koloraturen, und glaubwürdig als eine androgyne Erscheinung.
Die herausragende musikalische Einstudierung korrespondiert auf ganzer Linie mit der stimmungsvollen szenischen Umsetzung. Die Figuren wirken in ihren Empfindungen absolut zeitlos, auch wenn sie prächtige, teils auch märchenhafte Roben (Kostüme: Ilaria Ariemme) des 17. Jahrhunderts tragen.
Auf Nicolas Boveys Bühne machen bei alledem geschickte räumliche Verwandlungen Staunen: Von Zeit zu Zeit teilt sich der imposante Festsaal, in dem das Geschehen seinen Anfang nimmt, in der Mitte, und ein atmosphärisch anderer schmaler Raum schiebt sich dazwischen.
Nur der zweite Akt auf dem nebulösen Galgenberg spielt ganz und gar in einer Landschaft, so grau, düster, nebelverhangen und unheimlich wie die Musik.
Der verdient umjubelte Turiner „Maskenball“ trägt folglich dem Anspruch Rechnung, den der mit Muti befreundete, verstorbene Giorgio Strehler einmal so formulierte: Dass eine Zusammenarbeit von Dirigent und Regisseur dann vollkommen ist, wenn jeder auch vom Handwerk des anderen etwas versteht.
Diese großen Qualitäten konnte das jugendliche italienische Publikum ermessen, für das Muti die von mir besuchte Voraufführung bestimmt hatte. Bemerkenswert konzentriert und gebannt folgten die jungen Leute geradezu vorbildlich der Aufführung. Kaum einer von ihnen spielte am Handy herum, niemand störte oder brabbelte mit seinem Nachbarn. Und am Ende feierten die jungen Italiener das ganze Ensemble und allen voran Riccardo Muti wie einen König.
Hoffentlich werden diesem Maskenball noch weitere szenische Opernproduktionen unter Mutis Leitung folgen.
Kirsten Liese, 23. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti Musikverein Wien, 22. und 23. Januar 2024
Giuseppe Verdi, Nabucco, Teatro Regio Torino, 21. Februar 2020
Vorankündigung: Ravenna Festival 2023, Riccardo Muti Ravenna, Start 16. Dezember 2023