Foto: Teodor Currentzis © Astrid Ackermann
Laeiszhalle, Hamburg, 5. Oktober 2022
UTOPIA
TEODOR CURRENTZIS, Dirigent
Igor Strawinsky (1882–1971)
L’oiseau de feu (Der Feuervogel) / Konzertsuite (1911/1945)
Maurice Ravel (1875–1937)
Daphnis et Chloé / Konzertsuite Nr. 2 (1913).
Maurice Ravel
La valse / Poème chorégraphique für Orchester (1919)
In den folgenden Zeilen nehme ich Sie mit auf einen außergewöhnlichen Konzertabend in die wunderschöne, geliebte Laeiszhalle. Mein Wunsch, endlich wieder ein erstklassiges Ensemble mit einem phantastischen Dirigenten in diesem schönen Konzertsaal zu erleben, sollte sich erfüllen. Endlich ist es soweit: Ich darf bei einem der ersten Konzerte von UTOPIA anwesend sein.
von Iris Röckrath
Auf dem Programm stehen drei der raffiniertesten Orchesterwerke des frühen 20. Jahrhunderts, entstanden allesamt für die legendäre Ballett-Compagnie »Ballets Russes« in Paris.
Nach dem vierten Läuten sitzen alle Zuhörenden gespannt auf ihren Plätzen. Die MusikerInnen nehmen bei ihrem Auftritt den herzlichen Applaus entgegen. Die GeigerInnen und BratschistInnen stehen vorn am Bühnenrand (wie bei MusicAeterna). Die Instrumente werden kurz gestimmt – und dann tritt er auf: Teodor Currentzis, der Gründer dieses neu ins Leben gerufenen Orchesters bestehend aus 100 Musikern aus 30 Nationen auf der Suche nach dem „perfekten Klang“.
Alle Mitglieder sind exponierte Instrumentalisten aus den bekanntesten Orchestern der Welt. In persönlichen Interviews aus den vergangenen Tagen sprechen sie über ihre Motivation, in diesem Ensemble mitzuspielen. „Der Name des Orchesters bedeutet für uns etwas Imaginäres, es geht darum, großartige Musik zu machen, aus dem Nichts zu einem „guten Ort“ zu gelangen. Ich wünsche mir, dass diese Utopie einer positiven Sichtweise und Hoffnung in den Ohren, Köpfen und Seelen der Menschen Einzug hält, die unsere Musik hören.“ (Thomas Hammes – Solotrompeter)
Bevor das Konzert beginnt, branden dem Dirigenten tosender Applaus und Bravo-Rufe entgegen. Und dann beginnt ein Konzert, das nicht so schnell in Vergessenheit geraten wird.
Die Spannung auf der Bühne überträgt sich augenblicklich ins Publikum. Kein Laut ist mehr zu hören. Currentzis steht mit dem Rücken zum Publikum. Er dirigiert nicht nur den Feuervogel von Strawinski, nein, er bewegt sich selbst wie ein großer Vogel. Er greift in die Luft, er umfasst sie mit ausladenden Armbewegungen wie mit Flügelschlägen, spielt mit den Fingern, er streichelt, er führt einen regelrechten Balztanz auf und immer folgt das Orchester ihm. Das Wechselspiel zwischen Querflöte und Oboe gleich zu Beginn bezaubert, die Tutti der Streicher entwickeln einen brillanten, berückenden Klang vom Fortissimo bis zum zartesten Pianissimo. Zum Niederknien schön. Es liegt eine besondere Spannung und Intensität in der Laeiszhalle, hervorgerufen durch die Musik, die zu einer Verschmelzung von Dirigent, Musikern und Publikum führt.
Die Gesichter aller Musizierenden zeigen Emotionen, sie fühlen, was sie spielen, sie schwelgen, das Publikum schwelgt mit. Mit einem Schlag verändert sich alles. Der Höllentanz beginnt. Currentzis peitscht das Orchester voran, es wirkt dabei nie gehetzt, alle Mitglieder von UTOPIA sind aufs Äußerste angespannt. Sie spielen gemeinsam, atmen zusammen. Das grandiose Finale wird von einem bravourösen Hornsolo eingeleitet. Die flirrende Spannung entlädt sich schließlich in vollem Orchesterklang.
Um 20:35 Uhr steht die Laeiszhalle Kopf. Bravojubel, der nicht enden will.
In der Pause sind viele fremdsprachige Menschen anzutreffen. Einige waren anscheinend noch nie in der schönen Musikhalle. Viele Fotos werden gemacht und lange Schlangen bilden sich vor den Verkaufstresen.
Zum zweiten Teil haben das Orchester und der Dirigent bereits ihre Aufstellung eingenommen, während einige KonzertbesucherInnen noch ihre Plätze im Parkett aufsuchen. Der Dirigent nimmt es mit humorvollem, sympatischen Lächeln und wartet, bis es still ist im Saal.
Und dann geht’s weiter mit Ravel. Gleich zu Beginn fühle ich mich wie auf einer Frühlingswiese mit Vogelgezwitscher, Gezirpe und Harfenklang. Die ausladenden Armbewegungen des Dirigenten nehmen die Anwesenden mit in ein viertelstündiges musikalisches Bad der Ravelschen Zauberwelten. Die wunderbaren Legatobögen lassen die Gedanken eintauchen in den Bach, in dem der junge Daphnis gerade badet und von Chloé beobachtet wird. Das Tempo zur Schlussszene wird stürmisch. Alle spielen exakt AUF DEN PUNKT, als wenn sie seit vielen Jahren eingespielt aufeinander sind.
Zum abschließenden Valse von Maurice Ravel lässt Teodor Currentzis zum Walzer aufspielen. Der Dirigent ermuntert mit verschmitztem Lächeln und Freude zum Walzertakt. Nun kann man deutlich sehen, wozu die Streicher in der Lage sind, wenn sie im Stehen auf ihren Instrumenten spielen. Sie wiegen sich, der Violinist in der zweiten Reihe spielt so hingebungsvoll in Richtung seiner Kollegin, dass man meint, er möchte mit ihr übers Parkett schweben.
Currentzis erinnert an einen Maler, der eine große Leinwand vor sich hat und im Stile eines musikalischen Impressionisten mit gespreizten Fingern hier etwas Farbe hintupft, weiche Konturen aufmalt und dann mit großer Geste und großflächigem Pinsel Farbe aufträgt, um sie dann wieder wegzuwischen.
Am Ende tobt das Publikum, es springt von den Sitzen auf und feiert die Mitwirkenden mit lauten BRAVO-Rufen – ob es wohl noch eine kleine Zugabe geben wird?
Es gibt eine. Es folgt ein weiteres, ursprünglich als Ballett geschriebenes Stück, der BOLERO von Ravel. Grandios- fantastisch – überirdisch – ja, ich oute mich als Fan – wie kann man keiner sein? Ich habe den Bolero für mich neu entdeckt – die leicht angedeuteten Seufzer in den sich immer neu hinzugesellenden Soli von Querflöte, Klarinette über Tenorsaxophon Sopransaxophon, Horn etc. machen die Musik noch lebhafter. Die ausdrücklichen Betonungen jeweils zusätzlich zu dem langsamen Crescendo des gesamten Werkes wirken noch nach, als ich pfeifend den Weg nach Hause antrete.
Selten habe ich das Publikum in der Laeiszhalle so jubeln hören. Die Botschaft, dass Musik alle Menschen verbindet, ist angekommen.
Iris Röckrath, 6. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
musicAeterna, Teodor Currentzis Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, 17. August 2022
musicAeterna, Alexandre Kantorow, Teodor Currentzis Elbphilharmonie, Hamburg, 15. April 2022