Currentzis lässt Bruckners Neunte als großes Drama entstehen

Utopia Ensemble, Musikalische Leitung: Teodor Currentzis, Bruckner 9. Symphonie  Philharmonie Berlin, 16. Mai 2024

Teodor Currentzis UTOPIA © Nikita Chuntomov

Utopia Ensemble
Musikalische Leitung    Teodor Currentzis

Anton Bruckner, Sinfonie Nr.9 d-moll

Philharmonie Berlin, 16. Mai 2024

von Kirsten Liese

Ich habe in jüngerer Zeit keinen Künstler erlebt, der sich innerhalb von wenigen Jahren so fulminant entwickelt hätte. Als Teodor Currentzis 2019 bei den Berliner Philharmonikern debütierte und ich ihn das erste Mal erlebte, störte sein unruhiges Bewegen auf dem Podium. Das klangliche Ergebnis war schon damals grandios, aber anschauen mochte ich ihn nicht.  Zwei, drei Jahre später, als ich ihn erstmals mit dem Utopia Ensemble hörte, war das Erscheinungsbild schon ganz anders, wesentlich kontrollierter. Da stand er weitgehend kerzengerade vor seinem Orchester und wirkte geerdet.

Zum jüngsten Konzert nun in der Philharmonie sehe ich den bis dato immer etwas eigenwillig gekleideten Dirigenten erstmals in einem schwarzen Anzug mit Krawatte (!), und diesmal besteigt er, sonst immer plan am Boden,  gar ein Podest. Aus dem charismatischen Wilden wurde mithin einer, der sich zunehmend den Konventionen des Konzertbetriebs geöffnet hat und in seiner Kunst wächst. Rasant.

Die besondere Aufstellung seines Utopia-Orchesters freilich ist geblieben: Bis auf die tiefen Streicher musizieren alle Mitwirkenden im Stehen wie Solisten. Und damit der Höhenunterschied zwischen den Stehenden und Sitzenden nicht zu groß ist, thronen die Cellisten auf Podesten.

Zu erleben galt es an dem Berliner Abend Bruckners Neunte in einer äußerst aufwühlenden Interpretation. Denn das, was Currentzis vordringlich in dieser Sinfonie herausstellt, ist das große Drama, das sich zwischen groß angelegten Steigerungen Bahn bricht. Verzweiflung, Furcht, Schmerz und all die schweren Abstürze in einem Leben: Alles ist darin enthalten, und doch siegt bei Bruckner am Ende immer der Glaube an das Gute.

 ©Utopia Press Office

Diese spirituelle Komponente in der „dem lieben Gott“ gewidmeten Sinfonie kommt mir in Currentzis’ Interpretation noch ein bisschen zu kurz. Aber nun ist der Grieche erst 52, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das Mystische mit fortschreitendem Alter bei ihm permanent zunehmen wird. In einigen leise knisternden Übergängen war es schon jetzt zu erleben, vor allem im Pianissimo-Gemurmel der Celli und Kontrabässe des finalen Adagios.

Um auf den Anfang des ersten Satzes zurückzukommen: Der ist mit „feierlich; misterioso“ überschrieben, und so wie ihn Currentzis mit leichtem Fingerbeben beginnt, mag man an Valery Gergiev denken. Geheimnisvoll tönt das allemal, aber es geht ein bisschen zu schnell und damit ist gleich auch gesagt, was ich mir in der Wiedergabe der gesamten Sinfonie noch wünsche: größere Ruhe, damit einhergehend langsamere Tempi und eine größere Zärtlichkeit in allem Lyrischen, Sehnsuchtsvollen.

In Currentzis’ Interpretation überwiegen – das auch seitens seiner Körpersprache mit ausladenden leidenschaftlichen Armbewegungen – der Schmerz und das Gespenstische in dieser Musik. Das Trostreiche und Hoffnungsvolle, was sich bei Bruckner stets zwischen dem Abgründigen aufscheint, tritt hier noch dahinter zurück. Dennoch tönt das Seitenthema beim Wechsel nach A-Dur, mit „langsamer“ überschrieben, in den Streichern wunderbar markig, satt und prächtig.

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Schon nach den in kurzer Folge erreichten ersten dramatischen Höhepunkten im dreifachen Fortissimo des ersten Satzes, beinhart und markerschütternd vorgetragen, ist man fix und fertig.

Aber die Sorge, es könnte in dieser Wiedergabe vielleicht nur schnell und laut zugehen wie bei zahlreichen noch jüngeren Dirigenten, erfüllt sich dann keineswegs, und laut ist nicht unweigerlich laut. Es kommt auf die Qualität des Klanges an. Und der ist beim blendend disponierten Utopia Ensemble bei aller Dramatik doch von großer Kompaktheit. Dies vor allem auch dank der genialen Blech-Sektion, Hörner und Trompeten erstrahlen in ihren Fanfaren weihevoll in majestätischer Pracht, golden und brillant.

Nach diesem bewegenden Auftakt ist man schon darauf gefasst, wie nun das stark rhythmisierte, furchteinflößende berühmte Thema im Scherzo ausfallen wird. Currentzis und Utopia spielen es mit einer schier apokalyptischen Wucht, grell, hart und furchteinflößend. Das geht durch Mark und Bein.

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Den Ton des Lieblichen aber behält Currentzis in allen drei Sätzen überwiegend den Holzbläsern vor, sie tönen in ihren solistischen Lamenti von einer unwiderstehlichen Sanftheit.

So wie Currentzis die unvollendet gebliebene und doch vollendet wirkende Sinfonie aus dem Diesseits erkundet, wird die exponierte unerhörte None, mit der das Adagio in den ersten Violinen in kaum mehr zu überbietender vehementer Emotion einsetzt, freilich zu einem Wahnsinns-Schmerzensschrei, wie ich überhaupt an diesem Abend permanent den „Schrei“ von Edvard Munch vor meinem inneren Auge sehe. Es ist auf alle Fälle eine Interpretation, die der Notentext mit diesem permanent wiederkehrenden Motiv hergibt, auch wenn ich Wiedergaben bevorzuge, die mehr ins Jenseitige transzendieren.

Doch auch wenn mir Dimensionen des Überirdischen fehlen, bannt mich der ungeheure Ausdruckswille des Dirigenten und seiner Mitstreitenden. Hier musiziert jeder mit Haut und Haaren wie um sein Leben. Unweigerlich gerate ich in einen Sog und bin teils auch berührt, wenn Solo-Oboe oder Klarinette mit ihrem innigen Spiel für Momente der großen Beseeltheit in der Musik Raum geben.

 © Utopia Press Office

Wie sich im Finale dann noch einmal mit geballter Kraft endlose Gipfelgänge auftürmen – das kann man alles nicht spannungsreicher aufbauen als Currentzis und das Utopia. Und immerhin: Wenn kurz vor Schluss die ersten Violinen mit der im dreigestrichenen hohen A beginnenden Schwebemelodie abwärts einsetzen, ist es, als gehe die Sonne auf. Da kommt dann doch noch die ersehnte Magie ins Spiel.

Der Jubel in der gut besuchten, aber nicht ausverkauften Philharmonie war verdient hoch für einen Bruckner, den ich in einer solch’ exzessiven Dramatik noch nicht zuvor gehört hatte. Der Rest, das Mystische und Sphärische, kommt in ein paar Jahren ganz von allein. Da bin ich ganz sicher. Ich bin gespannt, wie Currentzis sich bis dahin weiterhin entwickelt.

 © Utopia Press Office

Dank an die Berliner Konzertagentur Adler, dass sie dieses Konzert ermöglicht und sich dem immer noch um sich greifenden, beschämenden Currentzis-Bashing verweigert hat, das anderswo beschämende Absagen nach sich zog. Ich bin jedenfalls der Meinung, dass solche Formen von Zensur der viel beschworenen Demokratie, der sich Europa verschrieben hat, entgegenstehen. Jeder sollte für sich entscheiden dürfen, ob er Stellung zu einem Politikum beziehen kann oder will oder aber auch nicht. Apropos Absage: Brittens „War Requiem“ mit dem SWR-Orchester unter Currentzis, das die Wiener Festwochen feige cancelten, wird nun am 12. Juni ebenfalls in Berlin zur Aufführung kommen.

Kirsten Liese, 18. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Pathys Stehplatz (44): Teodor Currentzis – wer ihn verjagt, schadet der Klassik klassik-begeistert.de, 1. Januar 2024

SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis Dirigent, MAHLER unFINISHED Philharmonie Berlin, 18. Dezember 2023

Utopia, Teodor Currentzis, Barnabás Kelemen, Violine Berliner Philharmonie, 14. November 2023

Klein beleuchtet kurz 6: Teodor Currentzis in der Elphi Elbphilharmonie, 12. Dezember 2023

2 Gedanken zu „Utopia Ensemble, Musikalische Leitung: Teodor Currentzis, Bruckner 9. Symphonie
Philharmonie Berlin, 16. Mai 2024“

  1. Liebe Kirsten Liese,

    „Aus dem charismatischen Wilden wurde mithin einer, der sich zunehmend den Konventionen des Konzertbetriebs geöffnet hat und in seiner Kunst wächst.“ Sehr galant formuliert, dass es ins Positive gleitet. Man könnte es auch negativ beurteilen. Dann würde der Wortlaut heißen: „…der sich den Konventionen des Konzertbetriebs angebiedert hat“. Es ist traurig, dass man ihn so weit getrieben hat, dass er das muss. Currentzis ist (war) der einzige, der beides verbindet (verbunden hat): Charismatisches Auftreten samt unkonventioneller Optik und inhaltsvolle Musik.

    Liebe Grüße
    Jürgen Pathy

    1. Lieber Jürgen Pathy,
      ich störe mich nicht an dieser Entwicklung, die auch etwas mit dem Älterwerden und Reife zu tun hat, im Gegenteil, ich finde, sein Auftreten profitiert davon. Schon aus so manchem Wilden wurde im Laufe von Jahrzehnten ein in sich ruhender Fels, allen voran aus Sergiu Celibidache. Ich finde ganz und gar nicht, dass das etwas mit Anbiederung zu tun hat, geschweige denn Currentzis’ Qualität schaden würde. Im Gegenteil: Dass er nun viel ruhiger auf dem Podium agiert als in seinen Anfängen, ist aus meiner Sicht ein großer Gewinn. Damals konnte ich ihm beim Dirigieren kaum zuschauen.

      Liebe Grüße,
      Kirsten Liese

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