Auf den Punkt 8: Dumm gelaufen – Lady Macbeth, Kent Nagano, Thomas Tuchel und der Gegenwartsbias. Versuch einer Würdigung

Auf den Punkt 8: D. Schostakowitsch, Lady Macbeth von Mzensk  Staatsoper Hamburg, 16. Mai 2024

Lady Macbeth von Mzensk © Monika Rittershaus 2022

Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975)
Lady Macbeth von Mzensk

Text vom Komponisten und Alexander G. Preis nach der gleichnamigen Novelle von  Nikolai S. Leskow
Uraufführung 22. Januar 1934, Sankt Petersburg (Maly-Theater)

In russischer Sprache mit deutschen und englischen Übertexten

Chor der Staatsoper Hamburg

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano – Musikalische Leitung

Angelina Nikonova – Inszenierung
Varvara Timofeeva – Bühne und Kostüm

Staatsoper Hamburg, 16. Mai 2024

von Jörn Schmidt und Regina König

Nach drei Dirigaten binnen 33 Stunden am 18. und 19. Februar 2024 gab’s bei Klassik-begeistert einen kleinen Shitstorm für Kent Nagano. Nachzulesen hier https://klassik-begeistert.de/der-dirigent-kent-nagano-im-super-stress-18-19-februar-2024-elbphilharmonie-staatsoper-hamburg/. Auch sonst war’s eine eher durchwachsene Spielzeit für den scheidenden Chef der Staatsoper. Nicht anders erging es Thomas Tuchel als Trainer des FC Bayern München. Die Spielzeit ’23/24 wird als titellose Saison in die Annalen von Deutschlands Vorzeige-Club eingehen.

Titellos in München, das ist in etwas so, als ob Klaus Florian Vogt sich öffentlichkeitswirksam weigern würde, in der Hamburger Staatsoper aufzutreten. Der Vergleich ist übrigens gar nicht so abwegig, Riccardo Muti boykottiert die Elbphilharmonie seit 2019 und hat sich entsprechend im Hamburger Abendblatt zitieren lassen („Ich dirigiere nie mehr in der Elbphilharmonie“). Was übrigens sehr schade ist, weil Muti sich wohl auch in der wunderschönen Laeiszhalle nicht mehr blicken lässt. Wo doch ein Gastspiel dort eine trefflich-elegante Höchststrafe für das neue Konzerthaus gewesen wäre.

Vergleiche zwischen Dirigenten und Fußball-Lehrern sind beliebt und werden nicht ohne Grund  beständig bemüht. Mariss Jansons beispielsweise galt nicht nur als Fußballfan (u.a. St. Petersburger Zenit, Bayern München), in einem Interview mit BR-Klassik hat er einst Parallelen zwischen beiden Berufsständen flüchtig  beleuchtet. Jansons ging es aber eher um Teamfähigkeit und die richtige Balance zwischen Strenge und Menschlichkeit. Also Soft Skills, über die Kent Nagano und Thomas Tuchel in ausreichendem Maß verfügen dürften.

Anders als Kent Nagano hat sich Thomas Tuchel auf Ursachensuche begeben, warum in der laufenden  Saison, nun ja, der Wurm drin ist. Wir erlauben uns den Spaß und legen Tuchels Worte Nagano in den Mund, was sich dann so lesen würde: „Ich habe keine Erklärung, wie so etwas passieren kann. Wir kommen aus einer guten Phase. In den Proben ist alles super, ich sehe die Energie, sehe den Spirit, die Qualität. Alle Einsätze sitzen, aber am Abend sinkt das Level konstant.“

Kent Nagano © Felix Broede

Hätte Kent Nagano nach seinem Dirigat von Lady Macbeth von Mzensk am 16. Mai 2024 zur Pressekonferenz antreten müssen, er hätte mit den Worten von Thomas Tuchel vielleicht gesagt: „Alle sind sehr zufrieden. Ich bin sehr zufrieden und sehr, sehr glücklich für meinen Staff, das Ensemble und die Musiker. Alle sind stolz, sie können zurecht stolz sein. Das war eine fantastische Team-Performance – ein dickes Kompliment an das Philharmonische Staatsorchester Hamburg!

Wir würden uns dem anschließen wollen. Warum? Lebens- und Liebessehnsucht sind eigentlich eine gute Sache. Aber nicht in der Oper und erst recht nicht bei Schostakowitsch. Katerina Lwowna Ismailowa möchte aus einer gewalttätigen Gesellschaft ohne Liebe und Empathie ausbrechen und wird dabei unversehens zur Doppelmörderin. Dumm gelaufen, am Ende steht Katerinas Bilanz-Suizid. Schuld sind eigentlich immer die Anderen bzw. die Gesellschaft, dennoch kann eine Mörderin niemals frei von  Schuld sein. Es sei denn, es liegt ein Fall des § 20 StGB vor („Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen“), gemeinhin Unzurechnungsfähigkeit genannt.

Nagano hat sich ohne Zweifel vertieft mit den seelischen Störungen der  Ismailowa auseinandergesetzt, sein Dirigat plädiert auf Schuldunfähigkeit. Das Orchester verbreitet meistenteils Angst und Schrecken, Tod und Verderben schleichen sich bis zur Unerträglichkeit meisterhaft an. Doch wenn Kristīne Opolais als Katerina Lwowna Ismailowa auftritt, schlägt die Stimmung im Orchester ins heldenhaft-zärtliche um. So klingt keine Mörderin, sondern eine Heroine. Opolais greift diesen Ansatz dankbar und phasenweise ausgezeichnet auf, nicht zuletzt in der Höhe fehlte ihr aber ein wenig Variabilität.

Das Konzept einer „Tragödien-Satire“, wie Schostakowitsch seine Oper genannt hat, liegt bei Nagano in den allerbesten Händen. Denn der groteske Kontrast zwischen Tragödie und Satire liegt in den Details bzw. Finessen der Partitur, die meisterhaft herausgearbeitet werden. Oftmals geht Detailtreue zu Lasten des musikalischen Flusses, das ist auch oder gerade Nagano schon wiederholt passiert. Nicht so heute, der Spannungsbogen riss nie ab, angetrieben von höchster rhythmischer Energie.

Dabei lässt die Rhythmik Raum für Klangrede, was die Sänger mit stimmigen Interpretationen danken. Katerinas Geliebten Sergej (Pavel Černoch)  stellen wir uns als tänzelnd-leichtlebigen Belami vor und Boris Timofejewitsch Ismailow (Alexander Roslavets) als boshaften Kleingeist. Und weil der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, gibt sich Sinowij Borissowitsch Ismailow (Vincent Wolfsteiner) wie sein Vater den einfältigen Spießer. Ida Aldrian  nutzt ihren kurzen Auftritt und ihren zuckersüßen Mezzosopran als Sonjetka bravourös, sie konkurriert nicht nur von der Rolle her mit Katerinas Konkurrentin mitunter kühlen Sopran. Im Übrigen war der Chor der Staatsoper Hamburg wie eigentlich  immer außerordentlich inspiriert.

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Elbphilharmonie, Kent Nagano, Martin Helmchen © Claudia Hoehne

Hat die Aussicht, Hamburg bald zu verlassen zu dürfen, Kent Nagano und sein Orchester aufblühen lassen? Danach sieht es jedenfalls bei Thomas Tuchel aus. Seit sein  Vertrag in München gekündigt ist, sind Mannschaft und Trainer plötzlich ein Team. In der Champions League wurde das Halbfinale erreicht und das Ausscheiden war mehr als unglücklich. Nicht nur die Spieler setzen sich nunmehr für seinen Verbleib ein, es gibt auch eine entsprechende Fan-Petition. Ein Comeback lag irgendwie im Bereich des Möglichen, auch wenn nichts draus wurde.

Dem Ansinnen der FCB-Spieler liegt die Argumentation zugrunde, dass sie unter Thomas Tuchel viel gelernt hätten. Über Fußball und hoffentlich auch über sich selber, wie man hinzusetzen möchte. Selbiges ist  dem Surfer Nagano gelungen, wenn auch nicht im Ballsport. Das Orchester der Staatsoper hat nach der Ära Simone Young zu neuer Spielfreunde und Spielkultur gefunden. Pauker Brian Baker trägt den Rhythmus wie kein Zweiter (in sich, ins Orchester und sowieso), die Holzbläser sind desgleichen auf dem Weg Richtung 1. Bundesliga. Usf., alle Instrumentengruppen haben sich weiterentwickelt. Wenn andere Dirigenten wie Ádám Fischer, Giampaolo Bisanti, Yoel Gamzou und Axel Kober an der Staatsoper Hamburg reüssieren, dann fußt das auf gelungener Orchestererziehung als Ergebnis von Kent Naganos Strenge, auch sich selbst gegenüber, seiner Akribie und großartigen Menschlichkeit.

Auch Kent Nagano wird in Hamburg nicht verlängern, anders als beim FCB ist dort mit Omer Meir Wellber ab der Spielzeit 25/26  immerhin schon ein vielversprechender Nachfolger gefunden. Thomas Tuchel und Kent Nagano waren ebenfalls mit viel Vorschusslorbeeren gestartet. Die Erwartungen haben sich hier wie da nicht erfüllt, erst zum Ende hin wird deutlich, was alles hätte gelingen können. Wie konnte das passieren? Findet sich die Antwort vielleicht im Fußball?

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Elbphilharmonie GroßerSaal, 18.02.2024, Kent Nagano, Martin Helmchen © Claudia Hoehne

Eine Beantwortung maßen wir uns aus der Ferne nicht an. Es wird desgleichen nicht nur die eine Erklärung geben, aber eines wird deutlich: Oftmals sieht man erst mit einigem Abstand, was man aneinander hatte. So war’s bei den Bayern, die Stars nahmen erstmal Abwehrhaltung ein, weil der Neue ihnen viel Neues abverlangte. Da waren dann alle erstmal ratlos.

Vielleicht gab es im Hamburger Orchestergraben eine ähnliche Knacknuss. Psychologen nennen das Gegenwartsbias. Dieser hat zur Folge, dass gegenwärtigem Nutzen mehr Gewicht beigemessen wird als zukünftigen Entwicklungen – obgleich der zukünftige Vorteil doch unendlich größer wäre. Derlei kognitive Verzerrungen passieren selbst oder gerade dann, wenn Hochbegabte aufeinandertreffen. Das wäre nicht nötig gewesen, wie das souverän-intensive Lady Macbeth Dirigat gezeigt hat. Dumm gelaufen.

Jörn Schmidt und Regina König, 17. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Klein beleuchtet kurz Nr 32: Kent Nagano dirigiert Richard Wagners Walküre mit meisterhafter Spannung Elbphilharmonie, 1. Mai 2024

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Kent Nagano, Anton Bruckner, Sinfonie Nr. 5 B-Dur Elbphilharmonie, Großer Saal, 4. März 2024

Der Dirigent Kent Nagano im Super-Stress 18./19. Februar 2024, Elbphilharmonie, Staatsoper Hamburg

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