Foto © Utopia Press Office
Ich kann es nur immer wieder sagen: Currentzis empfiehlt sich unter den noch jüngeren Dirigenten unter 60 derzeit als die stärkste Persönlichkeit. So einen lebendigen, beseelten Mahler hört man selten. Ich schreibe das auch an die Adresse von Spitzenorchestern und Festivals, die aus politischen Gründen einen Bogen um ihn machen. Sie sind damit schlecht beraten, dieser Mann berührt und bewegt in einer Weise, wie es nur wenige andere vermögen.
Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 op. 83
Gustav Mahler: Vierte Sinfonie
Utopia Ensemble
Alexandre Kantorow, Klavier
Regula Mühlemann, Sopran
Teodor Currentzis, musikalische Leitung
Philharmonie Berlin, 10. April 2025
von Kirsten Liese
Schon ein Blick auf das Podium verrät, dass an diesem Abend Einiges anders sein wird als gewohnt, noch bevor Orchester, Dirigent und Solist auftreten.
Denn der Flügel steht nicht vorne an der Rampe hinter dem Pult des Dirigenten, sondern, ganz ohne Deckel, in der Mitte des Orchesters. Wie sich beim Musizieren zeigen wird, ist das wesentlich sinnvoller als die gängige Praxis, da Solisten, sofern sie den Dirigenten im Rücken sitzen, halb so gut miteinander kommunizieren können, als wenn sie sich frontal anschauen. In einer solchen Aufstellung zeigt sich mithin ein fundamental anderes Musizierverständnis, das die Interpretation entsprechend einlösen wird: Dass nicht der Pianist die Hauptperson ist und alle übrigen begleitende Garnitur, sondern dass hier alle gleichwertig als Partner miteinander spielen. Wie in der Kammermusik.
Der Franzose Alexandre Kantorow ist dafür der ideale Mann, ein grandioser Pianist, dem seine besondere Affinität für Johannes Brahms anzumerken ist. Treffend viril spielt er die ersten beiden Sätze des zweiten Klavierkonzerts, voller Kraft aber auch Leidenschaft, eingebettet in einen Orchesterpart, den Currentzis und sein Utopia Ensemble ebenfalls mit großem Sturm und Drang durchleben.

Dass keineswegs das Klavier immer im Vordergrund steht, offenbart sich schon in den Anfangstakten mit dem exponierten, makellos vorgetragenen Hornsolo und besonders im dritten Satz, für mich das Herzstück des Konzerts mit der so überirdisch schönen, träumerischen Melodie im Solocello. Konstantin Pfiz spielt sie an diesem Abend berührend mit einem warmen, schönen, edlen Ton. Wenn ich dazu sage, dass diese Takte noch eine Spur intimer und zärtlicher hätten tönen dürfen, ist das aber schon Kritik auf hohem Niveau, denn so würde es in heutigen Zeiten vermutlich nur ein so genialer Cellist wie Gautier Capuçon abliefern können, der mit solchen Qualitäten das Erbe eines Pierre Fournier und André Navarra angetreten hat.

Jedenfalls wird es in diesem Andante besonders magisch, wenn die Streicher nach diesem Solo im denkbar leisesten Pianissimo spielen, wie ich es in diesem Konzert noch nie gehört habe, bis sie schließlich verebben, und Kantorow – nunmehr nur noch zu Akkorden von Klarinetten und Fagotten – zärtlich präludiert, mit einem himmlisch schwerelosen Anschlag, wie man ihn selten hört. Darin zeigen sich Kantorows ausgeprägte kammermusikalische Qualitäten. Und ein blendender Virtuose ist er natürlich auch, ohne dass er diese selbstgefällig ausstellen würde. Dass alles so leicht bei ihm anmutet, offenbart ja nun gerade seine große Kunst.

Das finale Allegretto grazioso bescherte dann überraschend eine weitere neue Hörerfahrung ganz eigener Art: Currentzis exponiert eine wiederkehrende, ein wenig an den ersten Ungarischen Tanz erinnernde Stelle, in der Violinen und Bratschen mit großem Schwung ins Schwelgen geraten, indem er die Musiker sie im Stehen reit musizieren lässt. Lohnt sich dieser Aufwand für die wenigen Takte? Oh ja! Schon allein, weil diese Dramaturgie die Aufmerksamkeit im Publikum schärft, die Musiker dabei mit einem kaum zu überbietenden süffigen, satten Sound aufwarten.
Mit Mahlers Vierter in der zweiten Konzerthälfte gelang dann eine so einmalige, grandiose Wiedergabe, wie ich sie live von dieser Symphonie noch nicht erlebt habe und damit ein Höhepunkt der Berliner Konzertsaison!

Auch hier offenbarte sich Currentzis abermals als ein Bekenntnismusiker, der von der ersten bis zur letzten Note mit großer Hingabe musiziert, kein noch so kleines Detail in der Vortragsweise dem Zufall überlässt. Ob es nun im ersten Satz die liedhaften Themen in den Streichern betrifft, die sie so beschwingt musizierten, teils mit leicht verzögerten delikaten Aufschwüngen davor, oder die Motive in den Holzbläsern, die die Klarinetten besonders keck ausstellten, indem sie die Trichter ihrer Instrumente übermütig hoch nach oben bewegten. Unabhängig davon, dass Currentzis alles penibel umsetzt, was Mahler an Vortagsbezeichnungen einfordert: Da wo „breit gesungen“ werden soll, spielen zweite Violinen und Bratschen entsprechend, da wo ein „frisch“ oder „kräftig“ verlangt wird, bringt sich Currentzis mit großer Verve ein.
Im zweiten Satz schlägt die Stunde der Holzbläser, die ihre zahlreichen Motive herrlich keck musizieren. Und dann prägt sich natürlich besonders jene prägnante Stelle ein, in der zu den liedhaften Girlanden der ersten Violinen die Harfe jeweils mit kurzen Sechzehnteln einen ungemein reizvollen gezupften kurzen Kontrapunkt setzt.
Das Herzstück dieser Sinfonie bildet analog zum Brahms’ Klavierkonzert der langsame dritte Satz, woran sich zeigt, dass es zwischen diesen beiden sonst so unterschiedlichen Werken doch Berührungspunkte gibt: in der starken melodiösen Innigkeit im Langsamen, und in der beschwingten Grundstimmung.
Jedenfalls lag hier eine pure Magie in den ersten, jenseitig anmutenden Takten dieses „Ruhevoll“, in der die Zeit stillzustehen schien. Von einer unnachahmlichen schmerzlichen Schönheit war diese Musik, in der auch ein Stück Ewigkeit lag. Noch gesanglicher, noch mehr espressivo und Pianissimo geht nicht.

Wenn sich jemand derart sorgsam um jedes Motiv, jede Überleitung, jede Steigerung, jeden ironischen Anflug verzehrt, macht es freilich Sinn, wenn die Noten auf dem Pult liegen. Wobei sich im letzten Satz, als sie in einem Schockmoment zu Boden fallen und wenige Minuten vergehen, bevor Regula Mühlemann, die Solistin, die Blätter wieder auf das Pult gebracht hat, zeigt, dass Currentzis mit der Partitur so gut vertraut ist, dass er mühelos auch ohne weiterdirigiert.
Auch Regula Mühlemann steht nicht Currentzis im Rücken, sondern zum besseren Blickkontakt direkt vor ihm. Der hoffnungsvolle vierte Satz mit dem Sopransolo „Wir genießen die himmlischen Freuden, drum tun wir das Irdische meiden“, für das sich aktuell wohl keine bezauberndere Stimme denken lässt als die von Regula Mühlemann mit ihren luziden, schwebenden, engelsgleichen Höhen, knüpft in seiner Magie unmittelbar an den dritten an.
Am Ende fühlte man sich wahrlich in einem klanglichen Paradies. Und blieb dort noch für einen Moment, als sich Currentzis, Mühlemann und Utopia nach „stehenden Ovationen“ tatsächlich noch mit einer Zugabe verabschiedeten: dem nicht minder magischen, verträumten, jenseitigen Lied „Morgen“ von Richard Strauss.
Wenn etwas an diesem Abend störte, dann einzig, dass Currentzis wie schon so manches Mal eine Wasserflasche vor seinem Pult deponiert hatte, um zwischen einzelnen Sätzen eine Trinkpause einzulegen. Mir gefällt das nicht, es stört die Binnenspannung zwischen den Sätzen und sieht nicht gut aus, wenn ein Dirigent vor allen anderen eine Pulle ansetzt. Aber das ist mein einziger Einwand.
Ich kann es nur immer wieder sagen: Currentzis empfiehlt sich unter den noch jüngeren Dirigenten unter 60 derzeit als die stärkste Persönlichkeit. So einen lebendigen, beseelten Mahler hört man selten. Ich schreibe das auch an die Adresse von Spitzenorchestern, die aus politischen Gründen einen Bogen um ihn machen. Sie sind damit schlecht beraten, dieser Mann bewegt und berührt uns, wie es nur wenige andere vermögen.
Kirsten Liese, 12. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Henze und Bruckner/Thielemann Philharmonie Berlin, 25. März 2025
Seong-Jin Cho Klavier, Jakub Hrůša Dirigent Philharmonie Berlin, 13. März 2025
Anna Vinnitskaya Klavier, Joana Mallwitz Dirigentin Philharmonie Berlin, 6. März 2025