Annaelle Tourret © Jewgeni Roppel
Peter Iljitsch Tschaikowsky, Romeo und Julia – Phantasie-Ouvertüre
Reinhold Glière, Konzert für Harfe und Orchester Es-Dur op. 74
Sergej Prokofjew, Symphonie Nr. 7 cis-Moll op. 131
Vasily Petrenko, Dirigent
Anaëlle Tourret, Harfe
NDR Elbphilharmonie Orchester
Musik- und Kongresshalle Lübeck, 9. März 2024
von Dr. Andreas Ströbl
Musik russischer Komponisten wird seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine häufig in Sippenhaft genommen, darunter die von Tschaikowsky, der sich aufgrund seiner Homosexualität im Putin-Reich verstecken müsste, oder die Prokofjews, der, wie Schostakowitsch und Chatschaturjan, in fast ständiger Todesangst vor dem Stalin-Terror lebte. Vasily Petrenko ist ein russischer Dirigent, der seit dem Einmarsch in das angebliche Bruderland in seiner Heimat nicht mehr auftritt. Das ist eben auch Russland.
Die ganze Sanftheit, Seelentiefe und Leidenschaft, die für große Werke der russischen Musik so typisch ist, all das blüht in Tschaikowskys Phantasie-Ouvertüre zu „Romeo und Julia“ auf.
Es ist sicher eine seiner berühmtesten Kompositionen und viele im Publikum am 9. März in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle kennen jeden Takt davon. Aber wie das NDR Elbphilharmonie Orchester unter dem jungen Dirigenten die gewaltige Emotionalität und Dramatik der Geschichte wiedergibt, ist grandios. Petrenko lässt sich Zeit, um die Empfindungen breit auszumalen, gerät aber nie ins Schleppen. Aus den getragenen Passagen erheben sich rasch die aufwühlenden, dramatischen Eruptionen tiefster Empfindungen, unterstrichen durch markige Schlagwerkeinsätze.
Trotz des breiten Orchesterklangs gibt Petrenko den Solo-Instrumenten genügend dynamischen Raum zur Entfaltung. Er geht ganz auf in der Klangwelt und seine erst zurückhaltend noble Grundhaltung weicht immer mehr einem leidenschaftlichen Einsatz mit einer Mimik, aus der seine Liebe zu dieser Musik spricht. Mag es auch ein Klischee sein, dass Tschaikowsky am besten klingt, wenn er von einem Landsmann dirigiert wird, aber anders als an diesem Abend möchte man ihn nicht hören!
Gleiches gilt für das Konzert für Harfe und Orchester von Reinhold Glière, sicher sein bekanntestes Werk. Der deutschstämmige Komponist gab 1900 seinem Namen „Glier“ einen französischen Anstrich. Im Sowjetreich war er sehr erfolgreich, aber man sollte sich vor allzu schnellen Urteilen hüten, denn wir wissen ja vom Fall Schostakowitsch und den genannten Kollegen, welche diplomatischen Eiertänze man vollführen musste, um aus Stalins Radar zu kommen. Für die Nachfahren der deutschen Ingenieure, Handwerker oder Wissenschaftler, die Peter der Große seinerzeit ins Land geholt hatte, gab es ab 1917 jedenfalls nichts mehr zu lachen.
Die ätherische Gestalt von Anaëlle Tourret scheint dem populären Bild der jungen, zarten Harfenistin zu entsprechen, aber ihr Spiel ist entschieden und zupackend. Klar, die Arpeggien fließen ihr als goldene Kaskaden völlig mühelos und sanft aus den Händen, aber sie zupft jeden Ton akzentuiert und gibt ihm deutlichen Ausdruck. Die Solokadenz im ersten Satz gerät meisterhaft und kristallklar, sie wechselt immer wieder von geradezu elfischer Milde zu energischem Duktus bei komplexem Pedaleinsatz. Das Orchester ist nie zu laut; der höchst aufmerksame Petrenko gibt der Solistin allen Raum, den sie braucht. Gerade im melancholisch durchwachsenen zweiten Satz mit zauberhaft anmutigen Variationen liebkost die Harfenistin geradezu die Töne, ihre Arme bewegen sich anmutig zwischen ihren Einsätzen, um die Klänge vorzubereiten, bevor sie dem Instrument entspringen.
Das Thema des dritten Satzes ist wahrscheinlich Glières bekannteste Schöpfung; der spannungsreiche Satz kommt frohgemut daher, Solistin und Orchester spielen sich gegenseitig die volksmusikalisch geprägten Themen zu. Das kurz vor dem Zweiten Weltkrieg entstandene Konzert atmet tiefste Spätromantik, so als gäbe es noch eine heile Welt.
Für die bravouröse Darbietung erntet Anaëlle Tourret begeisterten Applaus, für den sie sich mit einer spanischen Zugabe (de Falla?) bedankt.
Einer der berühmtesten Schüler Glières war Sergej Prokofjew, dessen Siebte Symphonie der Musikwissenschaftler Alex Ross einen „sanften, wehmütigen Rückzug aus der Welt“ nennt. Nach dem Eingangssatz mit seinen weiten Bögen, die immer wieder von verspielten Passagen abgelöst werden, um in einem spannungserzeugenden Fugato zu enden, hat der zweite Satz einen tänzerischen Charakter, dem das Dirigat Petrenkos vollkommen entspricht.
Das Tambourin unterstreicht die flotten Rhythmen und in seiner etwas überdrehten Walzer-Verarbeitung denkt man unweigerlich an Ravels „La Valse“. Das eingängige Thema des dritten Satzes, eines kompletten Antagonisten zum vorigen, aalt sich in einem behaglichen orchestralen Bett und ohne Pause geht es in den wirbelnden Finalsatz mit feurigen Ritten. Auch der wird regelmäßig durch ruhigere, fast behäbige Momente, die an die Bewegungen eines Tanzbären erinnern, strukturiert. Petrenkos Einsätze sind pointiert und die Sprache seiner Hände ist ungemein differenziert. Manchmal reckt er sich in die Gerade, um die Anweisungen auch in die letzte Reihe zu senden.
Man hat sich hier für die Originalversion des Stückes mit humoristisch-sanftem Ausklang entschieden, Prokofjew musste diktaturbedingt ein aufgesetzt-optimistisches Ende mit Tschingderassabum nachkomponieren.
Beim langanhaltenden Beifall mit vielen „Bravo!“-Rufen applaudiert der Dirigent stets dem Orchester und bei dessen klassischem Sitzenbleiben mit wippenden Bögen zieht er den Ersten Geiger schließlich hoch, um die begeisterte Würdigung dieses großartigen Abends mit allen zu teilen.
Dr. Andreas Ströbl, 10. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
4. Symphoniekonzert, Schostakowitsch und Mahler Lübecker Musik- und Kongresshalle, 18 Dezember 2023