„I’ve Been to the Mountaintop“ (Martin Luther King)

VISIONEN, Klaas Stok Dirigent, NDR Vokalensemble  Hauptkirche St. Nikolai, 1. Oktober 2023

Klaas Stok © Hans van der Woerd

Hauptkirche St. Nikolai, 1. Oktober 2023

VISIONEN

Klaas Stok Dirigent
NDR Vokalensemble

Alexandra Hebart Mezzosopran
Elbtonal Percussion
Thomas Cornelius Sampler

Aaron Copland (1900—1990) In the beginning (1947)

Georgi Sztojanov (*1985)

Refracting light (2022) Uraufführung; Auftragswerk des NDR

 I. Prologue – In the beginning
II. In the prism of words
III. Anglesandcolors

Anna-Karin Klockar (*1960) Speeches (2016)

I. The rights of woman
II. Surrender speech
III. Thebestfriend

Jacob TV (*1951) Mountain top (2008)


von Harald Nicolas Stazol

Kein Chor ohne Worte, diese Worte nicht ohne Chor, bei diesem Chor bin ich sprachlos – nein, natürlich nicht, aber die Textgewalt, die man hier in St. Nikolai vor reicher Zahl an Abonnenten an einem golden-rötlichem 1. Oktober geradezu erleben kann, ist eben schon, for want of a better word: gewaltig.


Der Chor singt alles in makellosem Englisch, allen voran die Mezzosopransitin Alexandra Hebart, naja, kein Wunder, sie ist ein Geschenk Australiens, nun gut, sie ist aus Melbourne, an unseren Stadtstaat, und was für eines!

 Zu Beginn die Genesis „In the beginning“ des von mir über die Maßen verehrten Aaron Copland, die Schöpfungsgeschichte, in der Manier eines jüdischen Gesanges, wenn 10 von ihnen zusammen kommen, und aus dem Programmheft kann man entnehmen, dass der Komponist in der McCarthy Hexenjagd eben auch verfolgt wurde – Zensur bringt eben oft Übermenschliches hervor, und nun ist man ja in der Gesellschaft des Schöpfers selbst, auch Adam und Eva kommen im Dialog zu Wort.

Dazu der  WDR Rundfunkchor unter der Leitung von Chefdirigent Nicolas Fink. Live aufgenommen am 23. September in der Marktkirche in Paderborn. aber hören Sie selbst:

 

Es mag an dem Dirigat des Klaas Stok liegen, der hochtechnisisert mit iPad UND Partituren dirigiert, liebevollst darf man sagen, und auch die nun auf dem Programm stehende Uraufführung (mein stärkstes Zauberwort!), des jungen Komponisten Georgi Sztojanov, und außergewöhnlicherweise schreibt er den Text des 3. Satzes selbst, ein Protokoll seines äußerst melodischen Gewissens und Selbstverständnisses, „hach ein Romantiker!“ flüstere ich gerade noch, a Beacon of light, ein Hoffnungsschimmer in den gegenwärtigen Weltläufen, denn so endet das Meisterstück von Klangwerk, das NDR Vokalensemble souverän, ja, bis ins kanülenhaft Feinste einfach überzeugend, en pleine forme, taktvoll!

Fügung des Schicksals – mein Konzertkenner Michael kommt mit, und in der Reihe eins kann man auch von Xylophon-Schlägern getroffen werden, so nah ist einem das ganze, aber in den schönen Momenten des Ausklanges – kein Husten, kein Blättern, kein Reinklatschen, Stok hält die Spannung wie Gustav Gründgens in „Mephisto“, dann Erlösung, nach den „Speeches“ der ebenfalls anwesenden Schwedin Anna-Karin Klockar: Die Forderung der Frauenrechte eine Sansculotte, der Olympe de Gouges in der Französischen Revolution, die sie den Kopf kostet, einen Tierschutzprozess, der ernüchtert, menschenfeindlich und den Kirchenraum amüsierend endet, kurz zusammengefasst: „the only one, who doesn’t betray you, is a dog“. Und erschütternd und traurig und mittig, der 2. Satz, ich spüre Tränen, die Kapitulationsrede eines Indianerhäuptlings, des Chief Joseph, eines frühen Pazifisten, Mahnmal der Verbrechen der Weißen Amerikaner an den Ureinwohnern, unauslöschlich wie die Shoa:

 „Ich bin des Kämpfens müde. Die alten Männer sind alle tot. Es ist kalt, und wir haben keine Decken; die kleinen Kinder erfrieren. Meine Leute sind in die Berge geflohen. Keiner weiß, wo sie sind – sie erfrieren.

Ich möchte nach meinen Kindern suchen, um zu sehen, wie viele von ihnen ich finden kann. Vielleicht finde ich sie unter den Toten.

Hört mich an, meine Häuptlinge! Ich bin müde, mein Herz ist krank und traurig. Dort, wo die Sonne jetzt steht, werde ich niemals mehr kämpfen.“

Und dann eben Martin Luther King in der berühmten Rede am Vortag seines Meucheltodes – und hier und jetzt GANZ anders: Mit Riesenprojektion, seine Stimme gerappt, zu hinreißender Chorleistung und Percussionisten des Elbtonal Percussion, zu dem die „Rheinische Post“ schrieb: „Die Vorzeigestunde der Möglichkeiten des Schlagwerks brachte eine unheimlich große Energie auf die Bühne, die ins Publikum pulsierte. Wie kaum eine andere Formation beherrschen die vier Schlagwerker aus Hamburg einen kreativen Crossover aus Klassik, Jazz und Weltmusik.“ Und in der Tat, so sehr, dass meine Nachbarin und ich den Rhythmus ins Blut bekommen und begeistert mit den Knien mitwippen.

Zum Glück aller NDR-Hörer wird das Ausnahmekonzert auch aufgezeichnet, den Sendetermin sollte man sich jedenfalls merken, Sie werden es nicht bereuen!

Und als diese Top-Performance ihr Ende findet, draußen ist es durch die Kirchenfenster dunkel geworden, blicken Michael und die Konzertbekanntschaft uns nur mal schnell an, und stehen auf, und in der ersten Reihe, und applaudieren so, zu den dankbaren Blicken der Mitwirkenden – und ja, wir tun es zu Recht!

https://klassik-begeistert.de/?s=NDR

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