Wege aus dem Ethnozentrismus – Opernprojekte in Lübeck

Wege aus dem Ethnozentrismus – Opernprojekte in Lübeck

Foto: © Olaf Malzahn

von Dr. Andreas Ströbl

Auch wenn die Premiere von „L’Africaine“ am 3. April dieses Jahres Corona-bedingt ausfallen musste, bleiben die Inhalte und Botschaften eines vierteiligen Opernprojekts am Theater Lübeck brandaktuell. Den Anfang machte im November des vergangenen Jahres „Christophe Colomb“ von Darius Milhaud mit einem Libretto von Paul Claudel, im Januar 2020 folgte „Montezuma“ von Carl Heinrich Graun, den Text hatte Friedrich II. von Preußen verfasst.

Die Libretti dieser Opern sind beispielhaft für eurozentrische Projektionen und Instrumentalisierungen des mittleren 18. und frühen 20. Jahrhunderts ohne wirkliche Kenntnis eines völkermordenden Kolonialismus, was die Inszenierungen grandios entlarvten. Die zeitgenössische „L’Européenne“ von Richard van Schoor mit einem Libretto von Thomas Goerge dagegen erlaubte im März, also kurz vor der Absage aller weiterer Vorstellungen in Lübeck und allen anderen Theatern und Opernhäusern, intelligente und sensible Perspektivwechsel von Afrika nach Europa und umgekehrt.

Den Abschluss dieses experimentellen und innovativen Projekts hätte „L’Africaine“ unter der Regie des burkinischen Musikers und Filmemachers Lionel Pouitiaire Somé gebildet; es wäre laut Pressemitteilung eine Erzählung „von der Beziehung von Kontinenten und Menschen, Liebe und Schuld“ geworden, mit großartiger Opernmusik und moderner Performance.

Somé war auch der Regisseur der collageartig aus Musik, Spiel und Filmszenen lebendig zusammengesetzten „L’Européenne“. Es hätte eine veritable Grand Opéra mit der Musik von Giacomo Meyerbeer und dem 1962 geborenen Komponisten Richard van Schoor mit einem Libretto aus dem Original von Eugène Scribe und dem 1973 geborenen Thomas Goerge geben sollen. Das Künstlerkollektiv Angermayr/Goerge/Somé/Traoré/van Schoor in Kooperation mit der Oper Halle im Rahmen des Projektes „I like Africa and Africa likes me – I like Europe and Europe likes me” hätte die Produktion realisiert. So wäre die Lübecker „L’Africaine“ eine Weiterentwicklung der Hallenser Inszenierung gewesen, die 2018 dort zu sehen war.

Liudmila Lokaichuk als Inès in der Hallenser Aufführung von „L’Africaine“. Foto: © Falk Wenzel

Wie dringend notwendig der wache Blick auf postkolonialistische Strukturen ist, wird am Nord-Süd-Gefälle zwischen Europa und Afrika deutlich, wie es „L’Européenne“ so unmissverständlich vermittelt hat. Wem im Lübecker Publikum vor Beginn der Premiere am 6. März noch nicht klar war, weshalb Tausende ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa, wo scheinbar Milch und Honig fließen, zu kommen, der hatte es am Schluss mit Sicherheit verstanden. Der afrikanische Kontinent leidet noch immer an jahrhundertelanger Ausbeutung von Rohstoffen, dem exzessiven Sklavenhandel nach Europa und Nordamerika und einer Territorialpolitik, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein europäische Maßstäbe über die der als minderrassig empfundenen Ethnien gepresst hat. Wie aktuell die Rechte von Ureinwohnern mit Stiefeln getreten und ihre Lebensräume vernichtet werden, demonstrieren selbstherrliche und machtgierige Subjekte wie Trump und Bolsonaro.

Wenn deutsche Intendanten und Theatermacher sich mit Verschwörungstheoretikern gemein machen und ihre Lanzen gegen eine vermeintlich diktatorische deutsche Regierung anlegen, dann wird schnell deutlich, dass hier eben doch nur die Windmühlen eines dringend angeratenen wissenschaftlichen Geistes ruhig und unaufgeregt das Korn mahlen, aus dem das Brot der Vernunft gebacken wird. Ein ebenso hellsichtiger Landsmann wie der Schöpfer des Ritters von der uneinsichtigen Gestalt, nämlich Francisco de Goya, wusste ebenfalls, dass der Traum der Vernunft Ungeheuer gebiert und folgerichtig zeigte Somé in seiner Produktion Goyas gefesselte Ketzer mit dem spitzen Hut und dem Büßergewand der spanischen Inquisition als Pappfiguren: mundtot gemachte Randglieder einer selbstgerechten Gesellschaft.

Wie angenehm ist es doch, wenn man mit unaufgeregten und scharfsinnigen Theaterleuten wie der – mittlerweile ehemaligen – Lübecker Operndirektorin Dr. Katharina Kost-Tolmein und dem ebenfalls nicht mehr in Lübeck wirkenden Chefdramaturgen Carsten Jenß ein intensives und offenes Gespräch führen konnte, wenngleich dies deutlich durch einen traurigen Unterton gefärbt wurde.

„L’Africaine“ hat es nun wie so viele Produktionen weltweit nicht gegeben und auf die Frage, ob sich dieses Projekt vielleicht doch noch retten ließe, folgte die Antwort, dass man eine so komplexe Inszenierung mit all den Mitwirkenden aus unterschiedlichsten Ländern nicht einfach verschieben kann. Da der Regisseur ja vom Film kommt, wäre eine filmische Umsetzung denkbar, vielleicht auch ein Gastspiel. Die Proben waren ja noch nicht einmal angelaufen, aber das Konzept verhieß gerade in seiner offenen Interpretation und Vielschichtigkeit eine – hier ist das oft etwas bemühte Adjektiv berechtigt – spannende Inszenierung.

Eine anderthalbstündige Strichfassung von Meyerbeers Oper über Vasco da Gama mit zusätzlichen Kompositionselementen von Richard van Schoor hätte sich schon rein auf musikalischer Ebene kritisch mit dem französischen Opernbetrieb und dem mitunter etwas selbstverliebt gebrauchten Begriff der „Grand Opéra“ auseinandergesetzt. Anders als Richard Wagner, dessen Kritik an dem erfolgreichen Genre sich auch aus Neid speiste, wären die Mitwirkenden dem Phänomen reflektiv und mit Improvisationen begegnet; es wäre eine oszillierende Mischung aus Musik, Sprache und Bewegung geworden, die, nach Frau Kost-Tolmein, „die Grenzen des Musiktheaters ausgeweitet“ hätte. Die Afrikanerin als Rolle wäre in dieser Inszenierung weniger als Opfer, denn als starke Frauenfigur erschienen.

Während des Gesprächs wurde deutlich, wie feinfühlig und selbstreflexiv die Lübecker Theaterleitung an die problematische Thematik herangegangen war und wieviel Vertrauen diese in das ausführende Kollektiv gesetzt hatte. Frau Kost-Tolmein betonte einen rigiden Antirassismus und eine Angstfreiheit als Hintergrund der Arbeit, denn schnell verführt ein positiver Rassismus zu Anbiederung und ethnographischer Hybris. Gewolltes Gutsein schlägt schnell um und dann entsteht das, was Carsten Jenß erfrischend als „eurozentrisches Dramaturgengelabere“ bezeichnete. Vielmehr sollte beim Publikum, so die Operndirektorin, ein „Spiegeleffekt“ entstehen, bei dem die Kunstform der „Grand Opéra“ nicht an Faszination verloren hätte, aber Prozesse sichtbar gemacht worden wären, die die Selbstgefälligkeit eines, so der Regisseur Somé, hohlen Apparats, bloßen Symbols entlarvt hätten.

Der Regisseur Lionel Poutiaire Somé als Performer. Foto: © Falk Wenzel

Und dann hätte es die „Transition/Tage“ vom 3. bis zum 9. April geben sollen, in denen, ausgehend von der Premiere von „L’Africaine“ und der Dernière von „Christophe Colomb“, alle vier Opern reflektiert worden wären. Unter dem Motto „Kolonialismus begreifen. Kolonialismus überwinden?“ hätte ein offenes Haus zu Diskussionen, interaktiven Führungen, Performances und Installationen eingeladen. Zu all dem ist es nun nicht mehr gekommen und das macht doch etwas traurig, zumal dies die letzte Spielzeit von Katharina Kost-Tolmein war.

Katharina Kost-Tolmein. Foto: © Falk Wenzel

Bei aller Wehmut lässt die Retrospektive auf die erfolgreiche Ära ihrer Leitung einen positiv gestimmten Schwenk auf das zu, was es alles in den vergangenen 15 Jahren tatsächlich gegeben hat. Das Theater Lübeck muss schon lange keinen Vergleich mehr mit den großen Hamburger oder Berliner Häusern scheuen, was vor allem ein Verdienst der Operndirektion ist. Experimentierfreudigkeit, musikalische und gesangliche Qualität sowie der Mut, bislang seltener aufgeführte Werke zu inszenieren, haben dem Haus zu einem beachtlichen Niveau verholfen. Großartige Inszenierungen mit Regisseuren wie Anthony Pilavachi, Sandra Leupold oder Jochen Biganzoli, um nur einige zu nennen, haben Lübecker Theatergeschichte geschrieben.

Katharina Kost-Tolmeins Weg hat sie nun an das Theater Münster geführt. Lübeck verließ sie aber auch mit einigen Tränen. Man hätte ihr noch einen großen Applaus im vollbesetzten Saal des Lübecker Hauses gewünscht.

Dr. Andreas Ströbl, 26. September 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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