Foto: Igor Levit ©Felix Broede
Igor Levit rettet den Auftakt der Tournee in der Kölner Philharmonie als Einspringer für die erkrankte Martha Argerich. Beethoven und Brahms unter der Leitung von Daniel Barenboim kann man noch in Luzern, Salzburg und Berlin erleben. Wer die Möglichkeit hat, sollte sie nicht verpassen.
Kölner Philharmonie, 12. August 2023
West-Eastern Divan Orchestra
Igor Levit (Klavier)
Leitung: Daniel Barenboim
Ludwig van Beethoven
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 D-Dur, op. 15
Zugabe:
Johannes Brahms
Drei Intermezzi für Klavier, op. 117: Nr. 1 Andante moderato
Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 2 D-Dur, op. 73
von Petra und Dr. Guido Grass
Monatelang hatten wir uns auf ein Wiedersehen mit Martha Argerich gefreut, doch dann musste sie leider aus gesundheitlichen Gründen absagen. Möglicherweise hat sie die herausfordernde Konzertreihe überanstrengt, die sie in Buenos Aires absolviert hat, so spekulieren wir.
Glücklicherweise hat sich ein vorzüglicher Einspringer gefunden: Igor Levit, der sich nach eigener Aussage von allen Komponisten am meisten von Beethoven verstanden fühlt (so Levit selbst gegenüber 3sat am 20.02.2017). Beethoven sei der zentrale Ausgangspunkt in seinem Leben.
Gemeinsam haben beide Pianisten, Levit und Argerich, dass sie in der großen Familie der Neuhaus-Schule verwurzelt sind. Das Programm mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 konnte also bedenkenlos unverändert bleiben. Levit wird das West-Eastern Divan Orchestra (WEDO) auf der gesamten Tournee begleiten.
Das WEDO wurde mit israelischen und arabischen Musikern als Jugendorchester gegründet und versteht sich als Friedensbotschafter im Nahost-Konflikt. Es ist für Daniel Barenboim, der neben Edward W. Said Gründervater des Orchester ist, eine tiefe Herzensangelegenheit, dieses Orchester zu fördern und seine Botschaft in die Welt zu tragen.
Levits Klavierspiel überzeugt
Levit betritt die Bühne, mit vorsichtigen Schritten folgt Daniel Barenboim. Levit bremst seinen Schritt und versichert sich unmerklich, dass der Abstand zum Maestro nicht allzu groß wird. Ungezwungen nimmt er am Flügel Platz und lächelt noch einmal intensiv ins Publikum.
Das Klavierkonzert Nr. 1 D-Dur, op. 15 ist Barenboim bestens aus zahlreichen Aufführungen mit ihm selbst am Klavier bekannt. Sein Konzert mit den Berliner Philharmonikern kurz nach dem Mauerfall ist legendär und auf CD verewigt. Heute wird er das gesamte Programm auswendig dirigieren.
Der erste Satz „Allegro con brio“ beginnt mit einer längeren Orchestereinleitung. Barenboim gibt hierzu mit einer kleinen, dynamischen Bewegung den Einsatz. Die vielen solistischen Passagen geben Gelegenheit, sich am Klavierspiel Levits zu erfreuen. Levit spielt mit wunderbarem Legato. Er pedalisiert perfekt und mit Bedacht. So perlen geradezu die Läufe auch im Piano. Barenboim hält das Orchester dynamisch im Zaum. Die Spannung wird nicht effekthascherisch durch übertriebene Lautstärkewechsel, sondern aus der Musik heraus im Dialog der Instrumente entwickelt. Nur gelegentlich dürfen beispielsweise die Hörner mit satten Sforzati und im Forte hervortreten.
Es ist wahrlich interessant anzusehen, wie weit Barenboim auf die gute Zusammenarbeit mit dem Orchester vertrauen kann und nur wenige Handzeichen benötigt. Den Taktstock lässt er meist auf beinahe Hüfthöhe absinken, um mit leichtem Zucken den Takt zu zeigen. Viel passiert allein durch seine Augen.
Eines Augenkontakts mit dem Solisten bedarf es jedoch nicht. Barenboim und Levit scheinen die gleiche Luft zu atmen. Nur bei der solistischen Kadenz lehnt sich Barenboim an das Dirigentenpultgeländer und schaut zufrieden dem Pianisten beim Spiel zu. Er ruht hier nicht aus: Barenboim dirigiert an dieser Stelle das Publikum. Er agiert als Vorbild: Seid still – schaut und staunt. Ist das nicht wundervolle Musik? Als großer Lehrmeister kennt er ganz genau die Kraft des imitierenden Lernens. Ganz natürlich führt er so das Publikum zur Stille und Konzentration.
Den zweiten Satz „Largo“ beginnt beinahe larghissimo. Insgesamt neigt Barenboim dazu nicht nur in der Dynamik, sondern auch im Tempo zurückhaltend spielen zu lassen. Wo bei anderen die Melodie stocken und zerfließen würde, gibt dies Raum zur Gestaltung auch der kleinen Phrasen. Dies erinnert bisweilen an Celibidache.
Zart und mit magerem Vibrato begleiten die Streicher Levits gefühlvolles Spiel. Er bleibt ohne selbstdarstellende Dramatik in der Konzentration auf die Musik, zeigt nur wenige große Gesten und zwar dann, wenn sie die Melodieführung unterstützen – sehr schön.
Barenboim zündet den Funken
Barenboim ist der große Initiator: Er gibt ein Zeichen, ein eindeutiges, und wartet die Bewegung ab. Als die Hörner kaum wahrnehmbar und nur eine Spur zu laut werden, werden sie mit einem strafenden Blick und einer kurzen Geste zur Räson gebracht. Seine Augen und kleine Handzeichen sagen ganz unmissverständlich: „Zuhören!“. Denn wie soll sonst ein Konzert für Klavier und Orchester gelingen? Der Genuss liegt in den Nuancen der sich in den verschiedenen Stimmen wiederholenden Melodie.
Im dritten Satz „Rondo. Allegro“ strahlen die Gesichter im Orchester. Besonders die jungen Bratschistinnen lachen, als wollten sie sagen: Endlich, wir dürfen loslegen. Es entwickelt sich eine Welle der Spielfreude – was für ein Glück hier musizieren zu können.
Levits Hände gehen wunderbar leicht auf Oktavenwanderung in Richtung grandiosem Schlussapplaus: Über 2000 Menschen in der Kölner Philharmonie erheben sich nahezu gleichzeitig von den Sitzen. Levit bedankt sich mit einer herzlichen Umarmung beim Dirigenten.
Unter dem Jubel strauchelt der 80jährige Barenboim kurz an der Treppe, eine winzige Schocksekunde. Levit möchte ihm zu Hilfe eilen, doch der Maestro hat sich schon wieder gefangen und scheucht ihn mit dem Taktstock weiter: Daniel Barenboim – ein Fels in der Brandung des Applauses.
Levit bedankt sich mit einer sehr gut ausgewählten Zugabe beim Publikum
Die Dimension, welch gute Wahl Levit mit seiner Zugabe getroffen hat, wird uns erst nach und nach klar. Ein Klavierstück von Brahms zu spielen, lag nahe, wird so doch ein Scharnier zur zweiten Sinfonie von Brahms im zweiten Konzertteil gebildet. Wie Igor Levit die melancholische und doch beruhigende Klangaura des ersten der „Drei Intermezzi für Klavier, op. 117“ (1. Andante moderato) in den Saal zaubert, sucht ihresgleichen. Sie passt perfekt auch zu der Stimmung, die uns am Ende dieses Abends ergreifen wird.
Diesen Brahms werden wir nicht vergessen
Was für ein Empfang nach der Pause! Noch bevor auch nur ein Ton erklungen ist: Stehende Ovationen für den Dirigenten. Es scheint ihn zu rühren: Ein lautstarkes „Dankeschön“ nicht für heute, sondern für sein Lebenswerk.
Und dann zeigt er es uns wieder: Er zündet den Funken zum ersten Satz „Allegro non troppo“ der Sinfonie Nr. 2 D-Dur, op. 73 von Johannes Brahms. Es scheint, als dirigiere er durch seine bloße Anwesenheit.
Die Querflöte zwitschert lieblich, und über allem erhaben schwebt die Oboe. Die Bläser kommen fulminant hinzu mit einzelnen drohenden Klängen. Doch die Geigen lassen alle düsteren Gedanken verstreichen. Vorbei geht der heitere Spaziergang an jähen Abgründen. Barenboim treibt den Spaziergänger mit klaren Stockbewegungen voran. Die Streicher folgen ihm in offensichtlich gut einstudierten Pizzicato-Schritten.
Immer wieder bremst Barenboim im Adagio des zweiten Satzes den jugendlichen Überschwang. So gelingt es den großen Bogen zu halten. Die melancholische Grundstimmung wird von den gut aufspielenden Celli geprägt, während die Kontrabässe im Dunkeln dräuen.
Vor dem dritten Satz ist Barenboim die Anstrengung anzumerken, doch die Musik beginnt ganz beschwingt, zugleich ohne Eile. Einfach perfekt wie er die Anweisung Brahms’ „Presto ma non assai“ in dieser Weise umsetzt. Warum hetzen, der Moment ist doch so schön, scheint die Oboe zu singen. Wunderbar hier auch der saubere gesangliche Ton des ersten Horns. Die präzisen Akzente der Streicher treiben die Musik optimistisch schreitend voran.
Zum vierten Satz „Allegro con spirito“ verlässt Barenboim das stützende Geländer, um das Orchester frei zum Triumph zu führen. Jetzt erst darf es seinen vollen Klang ertönen lassen, geht aber effektvoll immer wieder zurück ins Pianissimo und bleibt auch in den Steigerungen in sich ruhig bis zum grandiosen Finale. Umso effektvoller das Fortissimo. Was hier Hörner, Posaunen und besonders bemerkenswert die Tuba abliefern ist hervorragend gespielt und verfehlt nicht seine Wirkung. Das Blech strahlt eine fantastische „Fanfare“!
Hier tönt die Botschaft, die uns heute Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra auf den Weg gibt:
Menschen verschiedener Kulturen finden Einigkeit in der Liebe zur Musik – die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander darf nicht verloren gehen.
Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 14. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at