Wiener Philharmoniker
Daniel Barenboim, Dirigent
Bedřich Smetana
Má vlast (Mein Vaterland). Symphonische Dichtungen T 110 – 111, 113 – 114, 120 – 121
Wiener Konzerthaus, 17. Mai 2017
von Mirjana Plath
Es war einmal ein tauber Komponist, der malte eine Geschichte für Blinde. Er beschrieb mit Musik alte Legenden aus seiner Heimat, die sich zu lebendigen Szenen vor dem inneren Auge des Publikums fügten. Die Zuhörer waren so bewegt von seiner Musik, dass sie ihn zum Nationalhelden von Tschechien erhoben. Bedřich Smetanas Symphonische Dichtungen „Má vlast“ (Tschechisch für „Mein Vaterland“) erlangten Weltruhm.
Der Dirigent Daniel Barenboim hat Smetanas Geschichte beim Internationalen Musikfest im Wiener Konzerthaus mit den Wiener Philharmonikern weitererzählt. Schon beim Eröffnungskonzert hatte er drei Ausschnitte aus dem Vaterlandszyklus dirigiert. Nun brachte er alle sechs Dichtungen gemeinsam zur Aufführung.
„Má vlast“ ist Programmmusik. Das bedeutet, dass Smetana den Zuhörern zeigt, welche Gedanken er in seiner Musik verarbeitet hat. Er ließ seine Ideen von dem Dichter Václav Zelený zu Texten formulieren, die jeden Teil aus dem Zyklus beschreiben. Wie in einem Drehbuch liegt es beim Dirigenten, den Text als musikalisches Bild in Szene zu setzen.
Die erste Symphonische Dichtung aus dem Zyklus heißt „Vyšehrad“. Sie beschreibt die gleichnamige Burg bei Prag, auf der schon vor Jahrhunderten die böhmischen Fürsten residierten. Zwei Harfen eröffnen die Welt der Sagen. Sie erinnern an das Lautenspiel des mythischen Barden Lumir. Nach und nach setzen erst die Fagotte und Hörner, dann weitere Bläser und schließlich das ganze Orchester mit einem heroischen Thema ein. Sie gedenken Böhmens glanzvoller Zeit der siegreichen Schlachten.
Barenboim lässt die Musik wie aus dem Nichts unmerklich ins Forte fließen. Ebenso nahtlos nimmt er die Lautstärke wieder zurück. Er zeigt die herausragende Qualität des Orchesters, miteinander und nicht gegeneinander zu musizieren. Kein einziger Triangelton geht verloren, und nicht ein Beckenschlag übertönt das feine Oboenspiel.
Der bekannteste Teil aus „Má vlast“ steht an zweiter Stelle. „Vltava“ beschreibt in mehreren Episoden den Verlauf der Moldau von seinem Ursprung bis nach Prag. Barenboim inszeniert Smetanas Programm als Kopfkino. Die Szenen nehmen in der Fantasie Form an. Die Flöten plätschern verspielt im Quellwasser der Moldau und verdunkeln sich mystisch beim nächtlichen Nymphenreigen im Mondschein. Der Dirigent zerstört die Musik nicht durch übertriebene Fortissimi, sondern lässt jeder Melodie Raum zur Entfaltung.
Im dritten Teil des Zyklus beschwört Barenboim die Amazone Šárka herauf. Furios erscheint sie im Fortissimo des gesamten Orchesters. Sie ist von der Liebe enttäuscht und will sich brutal an der Männerwelt rächen. Dafür bezaubert sie den Ritter Ctirad. Die Holzbläser vertonen einfühlsam, wie seine Liebe zu der Amazone aufkeimt. Doch das Amazonentutti unterbricht brutal die idyllische Szene. Erbarmungslos metzelt Šárka den wehrlos schlafenden Ritter und sein Gefolge nieder.
Der vierte Teil trägt den Titel „Z českých luhů a hájů“ („Aus Böhmens Hain und Flur“). Smetana zeichnet dort ein Stimmungsbild der böhmischen Landschaft. In einem Fugato laufen von den hohen Geigen bis zu den tiefen Kontrabässen alle Streicher hintereinander her. Dabei spielen sie so filigran und einheitlich, dass man nur ein einziges Instrument pro Stimme zu vernehmen meint. Die Wiener Philharmoniker hören sich gegenseitig zu und präsentieren sich in bemerkenswerter Feinheit.
Die beiden letzten Teile „Tábor“ und „Blaník“ sind eng verknüpft. Sie erzählen von den Hussiten, die sich nach der Hinrichtung des Reformators Jan Hus zu einer Revolutionsbewegung zusammenschlossen und für ein freies Tschechien kämpften. Wie aus der Ferne wiederholen die Hörner den Ruf zum Kampf, während sich das Orchester zu einer immer größer werdenden Masse versammelt. Martialisch nehmen die Streicher den Kampfrhythmus auf. Im weiteren Verlauf spielen sie selbst im Fortissimo immer noch leicht und hüpfend ihre Staccati.
Der Übergang zu „Blaník“ geschieht fast unmerklich. Die letzte symphonische Dichtung beginnt mit dem gleichen Rhythmus, der nur wenige Momente zuvor den fünften Teil beendet hat. Smetana malt sich aus, wie eines Tages die ruhmreichen Tage seiner Heimat wiederkehren werden. Dafür greift er die heroische Melodie aus dem ersten Teil des Zyklus wieder auf. Barenboim kostet das grandiose Finale aus. Alle Stimmen verkünden lautstark die Rückkehr der Hussiten, die jahrhundertelang im Berg Blaník geruht und auf ihren Ruf gewartet haben. Der ganze Saal ist erfüllt von der triumphierenden Musik.
Die Wiener Philharmoniker erwecken mit Daniel Barenboim Smetanas Musik zum Leben. Sie erzählen packend seine fantasiereiche Geschichte und fesseln ihre Zuhörer mit ihrem wandlungsfähigen Ausdruck. Sie lassen durch ihr Spiel immer neue Bilder im Kopf entstehen und schenken dem Publikum eine wundervolle Märchenstunde.
Mirjana Plath, 18. Mai 2017 für
klassik-begeistert.at