Frank Peter Zimmermann © Irène Zandel
Das Violinkonzert Edward Elgars ist in deutschen Konzertsälen eher selten zu hören. Frank Peter Zimmermann lässt die enormen technischen Schwierigkeiten vergessen. In Begleitung der Wiener Philharmoniker wird so die Musik lebendig. Ein Gassenhauer wird mit Dvořáks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ in der zweiten Konzerthälfte geboten. Daniel Harding setzt hierbei den Schwerpunkt auf die dynamische und rhythmische Gestaltung.
Kölner Philharmonie, 6. Oktober 2023
Edward Elgar
Konzert für Violine und Orchester h-Moll, op. 61
Antonín Dvořák
Sinfonie Nr. 9 e-Moll, op. 95 B 178
„Aus der Neuen Welt“
Zugabe:
Johann Strauß (Sohn)
Elektro-magnetische Polka, op. 110
Wiener Philharmoniker
Frank Peter Zimmermann (Violine)
Dirigent: Daniel Harding
von Petra und Dr. Guido Grass
„Aqui está encerrada el alma de…“ stellte Edward Elgar seinem Konzert für Violine und Orchester, op. 61 voran; was soviel bedeutet wie: Hierin ist eingefangen die Seele von…“. Wessen Seele Elgar meinte, blieb ein Rätsel, und seine Vorliebe für solche Spielchen das Markenzeichen des Briten.
Einblicke in das Seelenleben einer ganz besonderen Dame gewährt uns heute Abend jedoch Frank Peter Zimmermann. Als 18-Jähriger traf er sie zum ersten Mal in Berlin, doch der Funke sprang nicht sofort über, verständlich bei diesem Altersunterschied! Schließlich ist sie Baujahr 1711 und brauchte dringend eine Restaurierung. 2002 wurde die „goldene“ Stradivari „Lady Inchiquin“ dann doch noch seine große Liebe, und er lernte über viele Jahre all ihre Geheimnisse kennen und ergründete ihre Seele.
Nur ein Schicksalsschlag konnte die beiden trennen: Besitzansprüche der WestLB AG mussten 2015 wegen Insolvenz geltend gemacht werden. Wie in einer wahren Liebesbeziehung besitzt nicht der eine den anderen, Zimmermann kämpfte verzweifelt um seine Lady, die ein Teil von ihm selbst geworden war. Die schmerzliche Trennung war nicht abzuwenden, sie dauerte in der Rückschau zum Glück keine Ewigkeit: „Lady Inchiquin“ wurde 2016 Eigentum der Nordrhein-Westfälischen Sammlung „Kunst in Landesbesitz“ und kam zu Zimmermann und somit heute Abend zu uns zurück.
Doch zunächst genießen wir die Orchestereinleitung, die in schwungvoller Wiener Art vorgetragen wird. Wie auf Wellen gleiten wir dahin. Ein ganzes Farbspektrum offenbart sich schon in dieser Exposition, hebt und senkt die Stimmung, um uns mitzunehmen bis die „Lady“ erscheint. Sie steigt quasi aus dem roten Teppich, der von den Philharmonikern ausgerollt wurde, hervor mit ihrem warmen, dunklen Klang.
Eine Stradivari ohne ihren Virtuosen ist auch nur ein teurer Holzkasten
In jahrelanger Arbeit hat Zimmermann gelernt, wie er auf diesem Instrument diesen unverwechselbaren warmen Klang erzeugen kann. Seine Berührungen an der richtigen Stelle kitzeln unglaublich warme Klänge aus ihm heraus. Besonders in den höchsten Lagen, wo andere längst nur noch hysterisch klingen, schmilzt der Ton, bleibt trotzdem klar und hinterlässt ein wohliges Gefühl.
Das Andante des zweiten Satzes erklingt als wehmütige Erinnerung an schöne Tage: Daniel Harding und die Wiener Philharmoniker tragen den Solisten, bis er auf Wolke 7 schwebt. Dabei verlieren sie nie den Kontakt. Wenn die Bläser bedrohlich grundieren, reagiert die Violine verzweifelt, bis sich beide in einvernehmlicher Idylle verlieren.
Der dritte Satz „Allegro molto“ verlangt mit seinem rasanten Tempo nach Virtuosität und die Lady zeigt, dass sie nicht nur süß, sondern auch ganz schön kratzbürstig sein kann. Zimmermann meistert alle Schwierigkeiten und geht mit ihr durch dick und dünn. Besonders eindrucksvoll ist die Kadenz vor dem Finale, bei dem das Orchester zunächst tremoliert, um einen kurzen Augenblick ganz zu schweigen. Hier lässt Zimmermann die Lady noch einmal in all ihren Nuancen leidenschaftlich singen.
Launisch wie das britische Wetter schlägt zum endgültigen Finale die Stimmung noch einmal in Raserei um, bis mit Pomp und Gloria das Ziel erreicht wird.
Jubelnder Applaus bricht los, aber auch das rhythmische Klatschen der ausverkauften Philharmonie führt zu keiner Zugabe. Leicht hüstelnd verlässt Zimmermann die Bühne. Eine so innige Beziehung zu so einer aparten Dame kann ganz schön Kräfte zehrend sein. Wir sind begeistert und haben vollstes Verständnis.
Die Wiener Philharmoniker begeistern mit Dvořáks Sinfonie Nr. 9 „Aus der Neuen Welt“
Auch in diesem Blog ist bereits kritisch darüber nachgedacht worden, inwieweit es sinnvoll ist, dass die Orchester, die Konzertveranstalter und auch die Konzerthäuser manche Stücke aus dem klassischen Kanon so oft programmieren. Beim Blick in das heutige Programm drängt sich erneut die Frage auf, ob dies sinnvoll ist. Allein in diesem Jahr wird die Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 9 e-Moll, op. 95 „Aus der Neuen Welt“ bereits zum dritten Mal in der Kölner Philharmonie aufgeführt. Zumindest für heute geben Daniel Harding und die Wiener Philharmoniker die Antwort: Ja! Die Gelegenheit das Werk von den Wienern gespielt zu hören, bietet sich nicht alle Tage. Wir mutmaßen, dass nicht zuletzt deswegen das heutige Konzert bis auf den letzten Platz ausverkauft ist.
Zart und leise lässt Daniel Harding Bratschen, Celli und Kontrabässe den ersten Satz „Adagio – Allegro molto“ beginnen. Umso wirksamer ist dann der Kontrast, wenn die Hörner die ersten beiden Töne eher fortissimo als forte heraushauen. Diese ersten vier Takte kennzeichnen bereits, wie Harding an die Sinfonie herantritt. Er achtet sorgfältig darauf, die Musik dynamisch abwechslungsreich zu gestalten. Er treibt das Orchester mit großen Bewegungen zu großen musikalischen Gesten.
Höhepunkt ist für uns der zweite Satz „Largo“, bei dem sich Dvořák von einer Dichtung über den Indianer Hiawatha inspirieren ließ. Die bekannte Melodie wird in unbeschreiblich weichen und warmen Tönen des Englischhorns angestimmt. Das ist höchste Kunst und unglaublich mitreißend!
Doch auch die Streicher der Philharmoniker leisten Erstaunliches. Es ist ein besonderer Effekt, wenn diese so exakt und gleichzeitig die tremolierenden Figuren spielen.
Im dritten Satz „Molto vivace“ wird einmal mehr deutlich, das Harding der dynamischen und, beinahe mehr noch, der rhythmischen Gestaltung besonderes Augenmerk schenkt. Die chromatisch absteigenden charakteristischen Synkopen der Hörner noch im ersten Teil des dritten Satzes werden beispielsweise nicht tenuto ausgespielt. Dies verstärkt den Effekt der Verschiebung gegenüber dem Takt. Manchmal droht die gesangliche Ausgestaltung insgesamt hierbei jedoch zu stark in den Hintergrund zu treten.
Volkstümlich tänzerisch intoniert das Holz den mehr böhmischen als amerikanischen Walzer. Die Streicher setzen hierzu saubere Akzente. Harding hält das Orchester an der engen Leine und dämpft sorgfältig den dynamischen Enthusiasmus der Violinen, damit das Holz wirksam zum Tanz auffordern kann.
Zu Beginn des vierten Satzes „Allegro con fuoco“ spielen die Streicher fortissimo auf, und das Blech darf es ihnen einige Takte später gleichtun. Hier dürfen die Trompeten strahlen. Und wie sie dies vermögen!
Dies gibt Platz zum Piano, um von dort aus deutliche Crescendi zu gestalten. Mit effektvollen Tuttischlägen endet die Sinfonie, bevor sie im lang gehaltenen Akkord der Bläser engültig verklingt.
Noch einen Augenblick hält das Publikum die Luft an, bevor es geschlossen aufsteht und enthusiastisch applaudiert. Es weiß die Leistung des Englischhorns, das Harding gleich zweimal zum Sonderapplaus aufstehen lässt, sehr zu schätzen.
Die Wiener Philharmoniker und Daniel Harding bedanken sich mit einer Polka. Warum diese als Zugabe ausgewählt wurde, erschließt sich uns zwar nicht, wirkt aber auf das Kölner Publikum offensichtlich sofort elektro-magnetisch: Die ersten Takte werden frenetisch mitgeklatscht. Und warum auch nicht? Klassik darf Spaß machen, Klassik darf begeistern.
Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 9. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Mahler Chamber Orchestra, Daniel Harding, Daniil Trifonov, Klavier Grafenegg, 25. August 2023