Foto: © Martin U. K. Lengemann
Wilde Romantik von Herbert Blomstedt und den Wiener Philharmonikern im Wiener Konzerthaus
Wiener Konzerthaus, 30. September 2018
Wiener Philharmoniker
Herbert Blomstedt, Dirigent
Franz Berwald: Sinfonie Nr. 3 C-Dur Sinfonie singulière
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 7 d-moll op. 70
von Thomas Genser
Mit den Wiener Philharmonikern führt Herbert Blomstedt durch ein erstklassiges Sinfonie-Programm im Wiener Konzerthaus. Er kann mit einem Dirigat punkten, das ebenso dezent wie hingebungsvoll ist. Obwohl der Schwede schon mit vielen Klangkörpern wie der Dresdener Staatskapelle, der San Francisco Symphony oder dem Gewandhausorchester zusammengearbeitet hat, erfolgte sein Debüt mit den Wiener Philharmonikern erst 2013. Diese Kooperation ist makellos. Der 91-Jährige weiß das Top-Orchester auch durch die komplexesten Passagen zu lotsen.
Bereits vor Konzertbeginn macht sich eine weihevolle Atmosphäre im fast ausverkauften Großen Saal – der Goldene Saal des Wiener Musikvereins ist immer ausverkauft, wenn die Wiener Philharmoniker, das wohl makelloseste Orchester der Welt, spielen – breit. Einleitung findet der Abend mit einem selten gespielten Stück: Franz Berwalds 3. Sinfonie, die Sinfonie singulière(1845). Als das Werk 1997 erstmals im Konzerthaus erklang, stand ebenfalls Blomstedt am Pult. Der Schwede besitzt ein natürliches Gespür für die Musik seines Landsmannes: Laut und klar lässt er die aufsteigenden Quarten zu Beginn exerzieren, Rufen in der Wildnis gleich, die in den verschiedenen Instrumentengruppen Widerhall finden.
Man könnte meinen, dass Blomstedt mitten in der Natur steht – geerdet und stabil. Es tauchen Wälder, Seen, trillernde Vögel, dichte Klangnetze und immer neue Quartrufe auf. Selbstverständlich wäre die singulière nicht entsprechend einzigartig, wenn nicht Kontraste zugegen wären: Berwalds kühne Harmonik schlägt Schneisen in die Wälder, die Pauken durchdringen die Nebelschwaden und ein sinfonisches Maß an Dramatik kann sich schlussendlich durchsetzen. Ende jedochim piano.
Ganz anders beginnt der innige folgende Satz, den der Dirigent langsam anschwellen lässt. Hier stehen Volksliedmelodik und bittersüße Holzbläserpassagen verquickt nebeneinander. Blomstedt tupft sanft auf die philharmonische Leinwand, die ihm jeden Wunsch von den Fingern abliest – was ihm an Körpersprache fehlt, kompensiert er mit Handarbeit. Ein Paukenschlag leitet das ungewöhnlich eingeschobene Scherzo ein. Formalen Spielereien wie diese machen Berwalds Musik einzigartig, mögen aber auch zu seiner geringen Präsenz in hiesigen Konzertprogrammen beitragen.
Letztlich zeigt sich dann romantische Dramatik: Schmetterndes Blech und gezielte Tutti-Passagen prägen das Finale– auch wenn im Charakter etwas eigenwillig, ist dieser letzte Satz klar auf Effekt ausgelegt. Die Sinfonie schließt – wie könnte es anders sein – in hymnischem C-Dur, somit sind alle Klischees erfüllt. Leistung: grandios. Beifall: mittelmäßig.
Nach der Pause bedient man sich eines bekannteren Werks: Dvořáks Siebte ist zwar seltener im Konzertsaal zu hören als seine Sinfonie aus derNeuen Welt– mit 31 Aufführungen im Wiener Konzerthaus liegt sie dennoch gut im Rennen. Der tschechische Komponist schuf das Werk für die Londoner Philharmonie, die Uraufführung dirigierte er 1885 in der St. James Hall. Der Einfluss von Freund und Förderer Johannes Brahms ist hörbar.
Dvořák fackelt nicht lange: Nach einem stillen Beginn geht es unmittelbar ans Eingemachte. Der erste Satz entwickelt sich schnell zu einem lauten, konflikthaften Nebeneinander musikalischer Ideen. Es scheint offenkundig, dass im Vergleich zu Berwald ein anderes Kaliber am Werk ist: Die Gesten sind ausladender, pathetischer – Blomstedt massiert die Musik durch. Im superben Wechselspiel von Horn und Holzbläsern eröffnet sich ein Idyll, dessen Verspieltheit bald vom übrigen Blech weggepustet wird. Aufstieg und Niedergang von Welten werden hörbar, die Atmosphäre ist einzigartig.
Choralähnlich beginnt der zweite Satz. Ein Film von melancholischer Stimmung spielt sich ab. Das Blech drückt an, fällt aber in tiefe Abgründe mit raschen Modulationen. Zwischen den jähen Schnitten meint man ein paar unaufgelöste Tristan-Akkorde zu vernehmen. Jener Eindruck verfestigt sich im weiteren Verlauf des Satzes zunehmend, der Wagner’sche Einfluss auf die Harmonik kann nicht geleugnet werden. Blomstedt muss wenig machen, der Film läuft wie von selbst.
Szenenwechsel zum Scherzo: Aus dem ansonsten sinfonischen Grundtenor herausfallend, lässt es sich Dvořák hier nicht nehmen, ein wenig böhmischen Volkstanz einzuräumen. Beide Violinengruppen buhlen abwechselnd von links und rechts um Blomstedts Gunst. Pastoral mit Holzbläsern und wiegender Rhythmik beginnt das Trio, das nur von kurzer Dauer ist. Die Pauken steigern sich aufs Neue, und dröhnend setzt das Scherzo wieder ein.
Fast attaca gehen die Philharmoniker zum Finale über. Ein eröffnender Oktavsprung zieht Aufmerksamkeit auf sich, der Komponist beschleunigt die Erzählung. Was folgt, sind ohrenbetäubende Spätromantik und virtuose Streicherläufe – die erforderliche Konzentration ist allen Beteiligten anzusehen. Ein angeschnittenes Seitenthema gerät sofort wieder in Vergessenheit. Lange pendelt die Musik zwischen Kampf und Triumph, spannungssteigernde Elemente treibt Blomstedt auf die Spitze. Etliche Kadenzen später ist die musikalische Konfliktlösung erfolgreich abgeschlossen.
Danke Herbert Blomstedt, danke Wiener Philharmoniker!
Thomas Genser, 30. September 2018, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at