Foto: Claudia Höhne (c)
Wiener Philharmoniker, Ingo Metzmacher:
Anton Webern: Sechs Stücke für Orchester op. 6;
Karl Amadeus Hartmann: Sinfonie Nr. 1 – Versuch eines Requiems;
Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 11 op. 103 „Das Jahr 1905“;
Elbphilharmonie, 23. Januar 2017
von Ricarda Ott
Wien in Hamburg, Teil II: Am Sonntag gaben die Wiener Philharmoniker ihr umjubeltes Debüt in Hamburgs neuem Wahrzeichen – der Elbphilharmonie. Am Montagabend stand das zweite Konzert dieses großartigen Orchesters auf dem Programm des Eröffnungsfestivals: diesmal mit dem Dirigenten und langjährigen Wahlhamburger Ingo Metzmacher und der Altistin Gerhild Romberger.
Ausgetauscht waren aber nicht nur Dirigent und Solistin. Vom spätromantischen Brahms-/Mahler-Programm des Vorabends spulte man die Musikgeschichte vor und landete im 20. Jahrhundert, in der musikalischen Avantgarde, der manchmal sperrigen, aber umso spannenderen Moderne.
Eröffnet wurde der Abend mit Musik von Anton Webern, Sechs Stücke für Orchester, op. 6 (1909). Ein Werk, das 1913 von der zentralen Figur der avantgardistischen Bestrebungen dieser Zeit, Arnold Schönberg, höchstpersönlich in Wien uraufgeführt worden war. Das von Uraufführungen verschiedener Komponisten geprägte Konzert ging als „Watschenkonzert“ in die Annalen ein: es wurde gerufen, gelacht, gepfiffen und gepöbelt, das Publikum war entsetzt.
Verwundern tut das natürlich nicht. In Wien, dem damaligen Zentrum der Avantgarde, brachen Schönberg und seine Kompositionsschüler (darunter: Anton Webern) radikal mit den bis dahin bestehenden Hörgewohnheiten des Publikums. Das tonale Komponieren in Dur/Moll wurde verworfen, und man verschrieb sich der Atonalität.
Über musikalisches Material in den Kompositionen sagte Webern einmal: „Kein Motiv wird entwickelt; höchstens, dass eine kurze Phrase sofort wiederholt wird. Wenn das Motiv einmal gesetzt ist, drückt es alles aus, was in ihm enthalten ist; es muss etwas Neues darauf folgen.“ Das, was eine Beethoven-Sinfonie so klar definierte – das musikalische Motiv – wurde jetzt strengstens abgelehnt. Die klare Devise: der Fortschritt, das fortwährende Vorwärtsrichten.
Das hört man dann auch schonungslos in Weberns sechs Orchesterstücken. Großes Orchester, zwei Harfen und Schlagwerk inklusive Celesta. Und die Musiker produzieren Klänge! Das sind so unerwartete Klangkulissen. Immer ist man gespannt und weiß nie, was als nächstes erklingen wird. Zwischen Metzmacher und den Musikern herrscht eine greifbare Spannung. Jeder einzelne Ton wird aus den Instrumenten gelockt, und jeder Ton lädt dazu ein, genau belauscht zu werden: laut, leise, schrill, weich, rauchig, klar, scharf und gedämpft. Diese Musik hält einen gefangen, und lediglich die vielen hustenden Menschen im Publikum bringen einen immer mal wieder zurück in die Realität des Konzertsaales.
Im Anschluss: Musik von Karl Amadeus Hartmann. Der 1905 in München geborene Komponist sah sich wie viele seiner Kollegen im Jahr 1933 der Frage nach seiner politischen Haltung konfrontiert. Hartmann entschied sich für den Widerstand und gegen die Ideologien der gerade an die Macht getretenen NSDAP. Nachdem sein Name dann schnell ganz oben erschienen war auf der Liste der Nazis für „entartete Musiker“, ging er in eine bis 1945 andauernde „innere Emigration“ und komponierte für die Schublade. Ein Begriff, den die Musikwissenschaft für jene Komponisten gefunden hat, die während des NS-Regimes ihr Leben und das ihrer Familien riskierten, in dem sie ihrer Profession nachgingen und Kunstwerke erschufen.
Hartmanns Sinfonie Nr. 1 – Versuch eines Requiems (komponiert im Jahr 1936, uraufgeführt als Fragment im Jahr 1948 und anschließend überarbeitet im Jahr 1955) für großes Orchester und Altstimme trägt einen hochpolitischen Geist in sich, das wird schon gleich zu Beginn deutlich. Wirbelnde Paukenschläge und Bässe, dann zarte Harfenklänge. Deklamatorisch-drängend dann die Singstimme – Gerhild Rombergers Alt ist im ganzen Stück präsent und stark –, die Gedichte des großen amerikanischen Freiheitspoeten Walt Whitmans aus seinem Zyklus Leaves of Grass vorträgt.
Die Singstimme dann im zweiten Einsatz lyrisch-melodisch: es geht um den Frühling, um Hoffnung in all dem Leide. In der abstrakten Tonwelt Hartmanns dann zwischendurch kammermusikalisch anmutende Teile: da spielt ein Streicherquartett himmlische Töne, tröstend tonal. Der instrumentale Mittelsatz beeindruckt: zeternde Trompeten arbeiten fragmentierend gegen die Streicher. Da ist viel los im Orchester, das jedoch immer zusammengehalten wird von Metzmacher.
Im vierten Satz – Tränen – hört man das Orchester wild einen Tränenstrom imitieren und Rombergers grotesk anmutender Oktavsprung abwärts bei dem Wort „Tränen“ lässt einen erschaudern. Höhepunkt des Stücks dann der letzte Satz, die „Bitte“, in Sprechgesang vorgetragen von der ausdrucksstarken Romberger und einem vielfältig zerfurchten und wieder verwebten Orchesterklang. Am Ende erklingen die Todesglocken.
Großer Applaus schon vor der Pause für alle Mitwirkenden. Ingo Metzmacher dirigiert diese anspruchsvolle Musik mit einer solch beeindruckenden Ruhe und Konzentration! Zwischen den Stücken herrscht eine solche Spannung zwischen den Musikern: da wird zum Teil nur mit Augenkontakt gespielt, weil das genaue Timing stimmen muss und diese Musik vom live-Moment lebt.
Mit Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 11 mit dem Titel „Das Jahr 1905“ steht ein weiteres hochpolitisches Werk auf dem Programm, das uns von den Schrecken vergangener Tage erzählt und diese uns musikalisch fühl- und erlebbar macht.
Im Jahre 1957 komponiert, widmete Schostakowitsch seine 11. Sinfonie inhaltlich dem Jahr 1905, genauer: den historischen Ereignissen des 22. Januar 1905, dem sogenannten „Petersburger Blutsonntag“. An jenem Sonntag waren tausende Arbeiter in die Stadt gekommen, um friedlich für bessere Arbeitsverhältnisse, menschenwürdige Zustände an den Arbeitsplätzen, für Toleranz und demokratisches Recht zu protestieren. Nach Zusammenstößen mit dem Militär rund um den Petersburger Winterpalast, ließ Zar Nikolaus II. mit unvergleichlicher Brutalität die protestierende Menge niederschießen. Am Ende dieser fehlgeschlagenen Revolution zählte man mehr als tausend Tote.
Januar 1905 – mit diesem bedeutsamen Datum setzte sich Schostakowitsch anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der erfolgreichen „Oktoberrevolution“ von 1917 musikalisch auseinander. Aber der Komponist hatte bei der Arbeit daran nicht nur das Massaker von 1905 vor Augen, sondern auch die gleichermaßen brutale Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 durch Sowjettruppen.
Die vier Sätze der Sinfonie haben alle programmatische Titel: Der Platz vor dem Palast, Der 9. Januar (nach westlichem Kalender der 22. Januar), In memoriam und Sturmgeläut. Mit einem spannenden, bedrohlich ruhigen Streicherbett in Mezzopiano beginnt es – großartig, diese Dissonanzreibungen! –, die Musik scheint sonderbar unterdrückt zu sein. Sind das vielleicht die Protestierenden im Untergrund? Und schon geht es weiter: unisono und im Gleichschritt marschieren die Soldaten auf: Ermordung, Staatsgewalt, brutale Unmenschlichkeit, das alles wird in Musik ausgedrückt. Die Musikerinnen und Musiker raufen sich, jagen sich, imitieren sich, spielen präzise im Gleichschritt wie die Soldaten in St. Petersburg. Bald darauf die Stille über dem großen Platz, die Toten und das Leid. Schostakowitsch webt für beide Affekte bekannte Volklieder in sein musikalisches Material mit ein. Einmal sind es Revolutionslieder und einmal Klage- und Trauerlieder: zum Beispiel die klagende Melodie unisono vorgetragen von der Bratschengruppe – ein Genuss.
Dieses Werk ist Gänsehaut pur. Wenn das dann im Saal der Elbphilharmonie erklingt und von so versierten Musikern vorgetragen wird, ist das ein ganz besonderer Moment für Klassik-Begeisterte. Solche Werke leben von der Aufführung. Werke mit solch tragischen und dauer-aktuellen Themen müssen körperlich erlebbar werden, müssen uns vor Ort herausfordern. Daher ist es eine ganz große Tat, wenn sich Dirigenten wie Ingo Metzmacher stark machen für häufigeres Aufführen moderner Musik.
Das Publikum in der Elbphilharmonie ist begeistert. Am Ende spendet die Mehrheit im Saal stehend Applaus. Viele Bravi! Vielleicht ist die Elbphilharmonie ja wirklich ein Ort, an dem in Zukunft vermehrt Modernes aufgeführt werden kann. Vielleicht können die Einweihung eines solch großartigen Konzertsaales, das Interesse der besten Orchester und Solisten sowie ein offenes Publikum ja wirklich genutzt werden, um auch eine neue Ära unseres Aufführungsrepertoires zu beginnen.
Ricarda Ott, 24. Januar 2017, für
klassik-begeistert.de