Gelungene Interpretation eines misslungenen Programmes im Wiener Konzerthaus

Wiener Symphoniker, Wiener Singakademie, Quasthoff, Carydis,  Wiener Konzerthaus, 29. März 2022

Foto: Thomas Quasthoff © Gregor Hohenberg

Wiener Konzerthaus, 29. März 2022

Wiener Symphoniker
Wiener Singakademie
Constantinos Carydis, Dirigent

Thomas Quasthoff, Sprecher
Solist der Wiener Sängerknaben, Knabensopran

Charilaos Perpessas
Christus Symphony (1948–1950) (Erstaufführung)

Anton Bruckner
Virga Jesse floruit. Graduale für gemischten Chor (1885)

Arnold Schönberg
A Survivor from Warsaw, „Ein Überlebender aus Warschau“, op. 46 für Erzähler, Männerchor und Orchester (1947)


Leonard Bernstein
Chichester Psalms (1965)

Charles Ives
The Unanswered Question (Two Contemplations Nr. 1) (1908)

von Julia Lenart

Wenn sich der nur noch selten auftretende Thomas Quasthoff ankündigt, lässt sich der Große Saal des Wiener Konzerthauses auch zweimal füllen. Am zweiten Abend in Folge leitet Constantinos Carydis die Wiener Symphoniker und die Wiener Singakademie durch ein gekonnt interpretiertes, wenn auch eigenwilliges Programm. Neben einer Erstaufführung freut man sich auf Thomas Quasthoff, der Schönbergs A Survivor from Warsaw rezitiert. Die Programmgestaltung warf allerdings schon vor der Vorstellung Misstrauen auf, das auch knappe zwei Stunden später nicht aufgelöst werden kann.

Die Programmzusammensetzung scheint einer religiösen Thematik zu folgen, die beinahe allen Stücken zugrunde liegt. Charilaos Perpessas Christus Symphony, die am Vorabend ihre Erstaufführung im Konzerthaus erlebt hatte, orientiert sich an Bibelversen. Anton Bruckners Virga Jesse floruit ist ein Graduale wie es im Buche steht. Demgegenüber stehen Arnold Schönbergs Holocaust-Mahnmal A Survivor from Warsaw, Leonhard Bersteins auf jüdischen Psalmen basierende Chichester Psalms und zuletzt Charles Ives in diesem Kontext schwer einzuordnendes Werk The Unanswered Question. Wie die Mischung aus jüdischen und christlichen Motiven zusammenpasst, sollte sich dem Publikum erst im zweiten Teil zeigen. Ein Einblick vorweg: Es passte nicht wirklich.

Die Verwunderung über die wenig adäquate Anordnung überschattet beinahe die über weite Teile ausgezeichnete musikalische Ausführung der Musikerinnen und Musiker auf der Bühne. Die Symphoniker meistern Charilaos Perpessas selten aufgeführte Christus Symphony bravurös. Das Werk könnte dem Score eines Monumentalfilms des Classical Hollywoods entnommen sein: gewaltige Orchesterbesetzung und getriebene Presto-Passagen, die sich mit sanften, streicherlastigen Adagio-Stellen abwechseln. Schlagwerk und Bässe treiben das Orchester voran, das anfangs noch in den Rhythmus finden muss, sich aber zunehmend steigert. Diese sechs-sätzige Symphonie mutet nicht zuletzt aufgrund abwechslungsreicher Dynamik, Klangfarben und Melodiegestaltung erstaunlich kurzweilig an. Der christlichen Grundlage dieses Werkes, das zur Hälfte auf Textstellen aus dem Buch der Offenbarung basiert, können sich Hörerinnen und Hörer jedoch nicht entziehen. Zudem bot Richard Wagners Aufsatz „Kunst und Religion“ dem Komponisten eine Anregung für den letzten Satz mit dem Titel „O du mein Jesus“.

So gelungen die Erstaufführung von Perperssas Christus Symphony den Beginn des Abends einleitet, so fragwürdig zeigt sich die Programmgestaltung des zweiten Teils. Anton Bruckners Virga Jesse floruit – übrigens fantastisch gesungen von der Wiener Singakademie – holt das Publikum nach der Pause wieder zurück ins Konzertgeschehen. Überrumpelt fühlt man sich jedoch, als Carydis ohne die geringste Unterbrechung mit Schönbergs A Survivor from Warsaw anschließt. Da stellt sich die Frage: Warum? Soll hier eine Verbindung der Religionen ausgedrückt werden? Oder will Carydis die Gegensätze verdeutlichen?

Was auch immer die Intention war, das Experiment geht nicht gut. Während die Zuhörerinnen und Zuhörer noch mit den Gedanken in Bruckners andächtigem Graduale stecken, sehen sie sich schon mit der ernsten Erzählung eines Überlebenden aus Warschau konfrontiert. Umso schlimmer noch, dass Carydis nicht wartet, bis der letzte Ton verklungen ist, um bereits mit Bernsteins Chichester Psalms anzusetzen. Vielleicht könnte man den thematischen Zusammenhang mit den jüdischen Chichester Psalms noch argumentieren, doch das ändert nichts an der unsensiblen Gestaltung. Dabei spricht Thomas Quasthoff ganz ausgezeichnet. Sein tiefer Bariton zieht die Zuhörenden förmlich in die erschreckend greifbar werdende Erzählung. Leider bleibt keine Sekunde Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten: Das vom Männerchor wundervoll gesungene Sh’ma Yis’ra’eil ist kaum verklungen, da jagen schon Bernsteins Chichster Psalms im 7/8-Takt mit voller Wucht durch den Saal. Eine derartige Einzwängung Schönbergs Melodram, das so eindringlich die Gräueltaten des Nationalsozialismus vor Augen führt, wird der tiefgreifenden Aussagekraft von A Survivor from Warsaw einfach nicht gerecht.

Ungeachtet dieser Enttäuschung muss die Interpretation der Symphoniker und der Singakademie gelobt werden, die auch im zweiten Teil ihr Können zeigen, wenn man ihnen auch an manchen Stellen die Schwierigkeit der Werke anmerkt. Der Knabensopran der Wiener Sängerknaben singt den zweiten Satz der Chichester Psalms mit Bravour. Das Ende des Stücks verschwimmt dann wieder mit Charles Ives The Unanswered Question, während sich der Große Saal des Konzerthauses in ein mystisches Ambiente verwandelt. Das Raumlicht verblasst zu einem kerzenlichtartigen Schimmer und im Saal verteilen sich Musiker (gemäß der Anweisung des Komponisten), was dem Stück ein mehrdimensionales Klangerlebnis verleiht. Gleich seines Komponisten, der sein Leben lang unangepasst blieb, will das letzte Werk des Abends nicht so ganz zu dem bereits Gehörten passen.

Am Ende schweben die unbeantworteten Fragen im Raum: Was soll die Programmgestaltung, und warum zieht Carydis den zweiten Teil ohne Pause durch? Schade, denn der Abend versprach angesichts der spannenden Stücke und der ausgezeichneten Künstlerinnen und Künstler viel mehr.

Julia Lenart, 30. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Alban Berg, Wozzeck, Oper in drei Akten (15 Szenen), Wiener Staatsoper, 27. März 2022

Johann Sebastian Bach, Kantaten, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal, 25. Februar 2022

Wiener KammerOrchester, Stefan Vladar, Klavier, Dirigent, Pärt, Mahler, Mozart, Haydn Wiener Konzerthaus, Mozartsaal, 13. Februar 2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert