STAATSOPER BERLIN, IDOMENEO © Bernd Uhlig
Ich kann es nur noch einmal sagen: Es ist lange her, dass ich eine so grandiose künstlerische Gesamtleistung an einem deutschen Opernhaus, zumal in Berlin, erlebt habe. Dieser Idomeneo ist ein kleines Wunder, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
Wolfgang Amadeus Mozart
Idomeneo
Sir Simon Rattle
Berliner Staatskapelle
Staatsopernchor
Inszenierung: David McVicar
Bühne: Vicki Mortimer
Kostüme: Gabrielle Dalton
Choreographie: Colm Seery
Idomeneo Andrew Staples
Idamante Magdalena Kožená
Ilia Anna Prohaska
Elettra Olga Peretyatko
Arbace Linard Vrielink
Staatsoper Unter den Linden, Premiere 19. März
von Kirsten Liese
Ja, gibt es das denn noch? Eine ansprechende Opern-Inszenierung ohne Absurditäten, Hinzudichtungen oder gar komplett umgeschriebenes Textbuch? Eine, die ohne Entstellungen, Missbrauch von Tieren, Crossover-Einlagen, optische (Video)-Überfrachtungen und woke Propaganda auskommt und das Werk nicht verkackeiert?
Gerade in der Berliner Hauptstadt, die zu einem Mekka für Regie-Rabauken geworden ist, hatte ich das gar nicht mehr zu hoffen gewagt. Und so ließ mich die jüngste Staatsopern-Premiere umso überraschter die Augen reiben, verbinden sich doch in diesem Idomeneo Musik und Szene organisch zu einer Einheit, und das ohne großen Aufwand. Das fängt schon damit an, dass der Regie führende David McVicar keine Scheu hat, das auf der Insel Kreta zur Zeit des trojanischen Krieges spielende Stück in der Antike zu belassen. Das drückt sich vor allem in den von Gabrielle Dalton entworfenen archaischen schönen Gewändern aus.
Über der Bühne schwebt symbolträchtig und passend zu der Handlung, in der es permanent um das Überleben geht, ein Totenkopf. Ansonsten ist die von Vicki Mortimer gebaute Bühne, die wie ein großes Blatt aus Papyrus aussieht, leer. An Atmosphäre fehlt es gleichwohl nicht. Dafür sorgen kleinere szenische Wechsel mit sparsamen Requisiten, stimmungsvolle Beleuchtungswechsel und vor allem einige Tanzeinlagen zu instrumentalen Zwischenspielen und Balletten. Mit letzteren referieren McVicar und Simon Rattle als musikalischer Leiter freilich auch klug auf die Gattung der Tragédie lyrique, auf die Mozart anspielt, wenngleich sein Idomeneo auch noch unüberhörbar der barocken Opera seria verpflichtet und in italienischer Sprache gehalten ist. So manche stilistische Wendungen von Gluck hört man hier und da durch, dessen Iphigénie en Tauride entstand nur zwei Jahre vor Mozarts Idomeneo.
Musikalisch empfiehlt sich diese Produktion ebenso als ein Fest.
Beginnen wir mit dem Dirigenten, der, mit der historischen Aufführungspraxis gut vertraut, schon vor 36 Jahren für seine Einstudierung dieser Oper weiland mit dem „Orchestra of the Age of Enlightenment“ international viel Beachtung fand. Ich habe diese Produktion damals zwar leider nicht erlebt, dafür aber 2008 Nikolaus Harnoncourts dritten Idomeneo beim Styriarte Festival in Graz, bei dem er auch selbst Regie führte, und fühle mich bei Rattle nun hinsichtlich der reichen Affekte und dem ungeheuren Drive in der Musik stark daran erinnert. Wobei es mir auch sehr gut gefällt, dass das zarte Cembalo in der Berliner Staatsoper nicht nur in den Rezitativen zu hören ist, sondern auch in den Arien und Ensembles, diese silbrigen Fäden, die dieses Instrument in die Musik einspinnt, prägen sie doch farblich ganz entscheidend.
Die Verve, die Rattle in sein Dirigat einbringt, täuscht gleichwohl nicht darüber hinweg, dass hier kein großer opulenter Klang aufgetischt wird, wie er für eine Wagner- oder Strauss-Oper angemessen wäre. Dieser Mozart tönt selbst in seinen dynamisch lauteren Momenten, in den die Chöre von der Partie sind, stets filigran und elastisch. Und entsprechend ist die Oper auch besetzt – mit teils eher kleineren, aber sehr lyrischen prächtigen Stimmen.
Andrew Staples lotet den Titelhelden, der im Zuge eines unheilvollen Schwurs seinen Sohn dem Meeresgott opfern soll, facettenreich aus. Dankbar und edel ist er, der sich dafür erkenntlich zeigen wollte, dass Neptun ihn auf stürmischer hoher See gerettet hat, und zugleich ein Unglücksrabe, der nun nicht weiß, was er tun soll: seinen Sohn außer Landes schaffen oder sich selbst als Opfer darbieten.
Aufgrund seiner hellen, fast falsettartig anmutenden Höhe hätte ich den Tenor fast für einen Counter gehalten, aber darin zeigt sich wohl auch wieder einmal, wie fließend die Übergänge zwischen den Stimmfächern geworden sind.
Magdalena Kožená, die ich vor Jahrzehnten noch in ihren Anfängen erlebte, als sie eine Sopran-Partie wie Händels Cleopatra mit den denkbar schönsten Kopftönen in den Spitzen sang, ist mittlerweile überzeugend souverän im Mezzofach angekommen. Noch nie hat sie mich in einer Mezzorolle so überzeugt wie nun als Idamante, Idomeneos Sohn. Kräftig, rund und sonor tönt ihre Stimme, die als größte aus dem Ensemble heraussticht, berührend durchlebt sie die emotionalen Wechselbäder zwischen Trauer um den tot geglaubten Vater und der Liebe zu der Kriegsgefangenen Ilia, Tochter des gefallenen trojanischen Königs Priamos.
In dieser Rolle brilliert Anna Prohaska gewohnt mit lyrischer Zartheit in allen Registern. Vor allem das Duett zwischen Ilia und Idamante im zweiten Akt, in dem sich die beiden ihrer gegenseitigen Liebe versichern, rührte zutiefst an, die beiden strahlenden, schlanken Stimmen harmonieren aufs Trefflichste miteinander.
Olga Peretyatko, die dritte im Gespann der Frauenstimmen, hätte vermutlich mit ihrer sehr hellen, luziden Stimme ebenfalls eine superbe Ilia abgegeben, für sie blieb aber die eher spröde, eifersüchtige Elettra, die ihr anfänglich weniger auf den Leib geschrieben steht, wenn ihre Höhen noch nicht so richtig strahlen wollen, aber im Laufe des Abends wird sie zusehends besser, besonders dann, wenn ihre Arien ihr virtuose Koloraturen abverlangen. Dann ist sie in ihrem Element!
Mit Arbace, dem Vertrauten des Königs Idomeneo, ist noch ein weiterer Tenor im Spiel, in Berlin verkörpert von Linard Vrielink, der sich ebenfalls im Laufe des Premierenabends steigert, zunächst noch etwas eng tönt, aber zunehmend geschmeidiger.
Das Lieto fine, also das glückliche Ende der Oper, wirkt freilich bei einem so ernsten Musikdrama etwas aufgesetzt. Über diese Tradition konnte sich Mozart, wiewohl er die Gattungen aufweichte, nicht drum herum.
McVicar entdeckt das freilich nicht als erster. Besonders drastisch hat Hans Neuenfels in seiner Skandal-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin mit den abgeschlagenen Köpfen von Mohammed, Jesus, Buddha und Poseidon sein Misstrauen zum Ausdruck gebracht.
McVicar löst das dezenter und eleganter. Sein Ende ist glücklich und tragisch zugleich: Idamante und Ilia besteigen als glückliches Paar den Thron und treten Idomeneos Erbe an, der aber befördert sich selbst, fast unauffällig, ins Grab.
Das Publikum wusste diese beachtliche künstlerische Gesamtleistung zu schätzen. Was wieder einmal zeigt: Wenn eine Inszenierung wirklich überzeugt, ruft in der Regel auch keiner Buh.
Ich kann es nur noch einmal sagen: Es ist lange her, dass ich eine so grandiose künstlerische Gesamtleistung an einem deutschen Opernhaus, zumal in Berlin, erlebt habe. Dieser Idomeneo ist ein kleines Wunder, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
Kirsten Liese, 20. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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