La Capitale d’Été: „Yannick and Friends“ spielen Kammermusik von Johannes Brahms

Yannick Nézet-Séguin und Mitglieder des Chamber Orchestra of Europe  Baden-Baden, Festspielhaus, 8. Juli 2023

Kammermusik COE © Andrea Kremper

Yannick Nézet-Séguin und Mitglieder des Chamber Orchestra of Europe präsentieren in Baden-Baden das Klarinettenquintett und das Klavierquintett 

Baden-Baden, Festspielhaus, 8. Juli 2023

Johannes Brahms (1833-1897) – Klarinettenquintett h-Moll op. 115; Klavierquintett f-Moll op. 34

Yannick Nézet-Séguin, Klavier
Romain Guyot, Klarinette

Mitglieder des Chamber Orchestra of Europe:

Lorenza Borrani, Violine
Maia Cabeza, Violine
Nimrod Guez, Viola
William Conway, Violoncello

 

von Brian Cooper, Bonn

Schon in Dortmund, als er ab 2013 für drei Jahre sogenannter „Exklusivkünstler“ war und es in mehreren Spielzeiten „The YANNICK Experience“ zu erleben gab, hatte Yannick Nézet-Séguin unter Beweis gestellt, dass er auch ein sehr guter Pianist und Kammermusiker ist. Als Dirigent längst ein etablierter Superstar, ist er nun auch, wie bereits im vergangenen Jahr, in Baden-Baden im Rahmen seines Sommerfestivals „La Capitale d’Été“ als Pianist aufgetreten.

Kammermusik zu machen ist für die dirigierende Zunft nie verkehrt, denn wer auch in der kleinen Form zuhause ist und gut auf die Anderen hört, findet ohne Weiteres Zugang zu größer bis sehr groß besetzten Werken. Und die Musikerinnen und Musiker des Chamber Orchestra of Europe gaben gemeinsam mit Yannick Nézet-Séguin gleichsam einen Meisterkurs im Fach „aufeinander hören“.

Yannick Nézet-Séguin © Astrid Ackermann

Zu Beginn richtete der Dirigent und Pianist ein paar Worte an sein Publikum. Er sprach über Kammermusik und das Musizieren unter Freunden, die Bedeutung von Johannes Brahms für Baden-Baden und die Welt, das Kombinieren seiner Leidenschaften „when I retire!“ (Gelächter im Publikum) – er möchte das Klavierquintett op. 34 einmal orchestrieren – und bezeichnete auch sein (leider recht spärliches) Publikum, wie immer charmant, als „friends“.

Kammermusik COE © Andrea Kremper

Der Abend begann mit einem Spätwerk, dem Klarinettenquintett op. 115, das Brahms für seinen Freund, den Klarinettenvirtuosen Richard Mühlfeld, schrieb. Romain Guyot, seit Ende der 1990er Mitglied und seit fünfzehn Jahren Soloklarinettist des Chamber Orchestra of Europe (COE), spielte mit cremigem Klang, fügte sich ganz wunderbar ein in das Streichquartett – bestehend aus Konzertmeisterin Lorenza Borrani und Maia Cabeza (Violinen), Nimrod Guez (Viola) und William Conway (Violoncello) – und drängte sich nie in den Vordergrund. Sein Spiel, das ich schon in den vergangenen Monaten öfter in COE-Konzerten bestaunt hatte, ist zugleich virtuos und ausnehmend bescheiden, und so wurde dieses erste Kammermusikwerk zu einem harmonisch ausbalancierten Musikereignis.

Schon ganz zu Beginn beeindruckte der feine Dialog der beiden Geigen. Schade nur, dass im ersten Satz mindestens zwei Handys den Genuss trübten. Normalerweise ist ein Kammermusikpublikum ein aufmerksameres als jenes, das sinfonische Konzerte bevorzugt – ganz dezidiert in Köln im Abo „Quartetto“ zu erleben.

Kammermusik COE © Andrea Kremper

Im fein dargebotenen Adagio, das ganz besonders von Guyots herrlichem Klarinettenklang geadelt war, wurde es leider nicht besser: Ein Herr mit sonorer Stimme schien sich derart zu langweilen, dass er es vorzog, sich mehrmals stimmlich hervorzutun. Meine Sitznachbarin, vermutlich Mitglied des COE, sagte zur Pause zu ihrer Freundin, sie hoffe, die Ausführenden hätten vom „unruhigen Publikum“ nichts mitbekommen. Sollte es einen medizinischen Notfall gegeben haben, nehme ich alles zurück; ansonsten fällt mir keine Rechtfertigung für derartiges Benehmen ein.

Viel besser wurde es glücklicherweise in den letzten beiden Sätzen. Insbesondere der Variationensatz, der letzte, wurde zu einem düster-nachdenklichen Vortrag, der einen ziemlich bewegt zurückließ.

Das op. 34 von Brahms, eines meiner absoluten Lieblingswerke des gesamten kammermusikalischen Repertoires, hatte ich mit „Yannick and Friends“ bereits in Dortmund erlebt, und so war die Vorfreude groß, es abermals mit diesem vielseitig begabten Musiker am Klavier zu hören. Kraftvoll und mit Wucht beginnt nach leiser unisono-Einleitung der erste Satz des Klavierquintetts. Und dann ist man mittendrin in diesem Drama.

Der erste Satz ist so voller Sturm und Drang, voller geradezu jugendlicher Leidenschaft (Brahms war allerdings schon Anfang 30, als er das Werk schrieb), dass der zweite wie eine Ruheinsel erscheint, die hier ganz besonders vom aufmerksamen Aufeinander-Hören aller Beteiligten profitierte. Das geisterhafte Scherzo beginnt wie aus dem Nichts, bevor die Akkorde losbrechen und jenes Klopfmotiv den Satz durchzieht, das stark an Brahms’ Scherzo c-Moll aus der F.A.E.-Sonate erinnert.

Kammermusik COE © Andrea Kremper

Ideal ist es, wenn der letzte Satz nahtlos angefügt wird. Aber natürlich muss auch umgeblättert werden. William Conways Einleitung setzte den Anfangspunkt für diese geheimnisvolle, langsame und schier endlose Melodielinie, die alle Instrumente mitgestalten – die Streicher mit sparsamem Vibrato, was einen schönen Effekt hat, das Klavier sonor grundierend –, bevor es dann in die Zielgerade geht und das Quintett mit diesen elf Tönen zu einem radikal-abgehackten Ende findet. Ganz kleine Konzentrationsschwächen zwischendurch trübten nicht das Gesamtbild einer sehr guten Darbietung, die künstlerisch durchdacht war und das dankbar applaudierende Publikum glücklich in den warmen Abend entließ.

Ein Kuriosum nach Konzertende: Es hatte Programmblätter gegeben. Ich hatte keines bekommen und fragte daraufhin einen Herrn, der in der Nähe des Künstlereingangs stand und einen solchen Zettel hinter seinem Rücken hielt, ob ich einen kurzen Blick darauf werfen dürfe. (Ich wollte die Namen der Ausführenden mit jenen im Programmbuch abgleichen.) Keine Antwort. Ich wechselte daraufhin ins Englische. Darauf der Herr allen Ernstes: „Ich habe kein Programm.“ Sofort war ich in Gedanken bei René Magrittes Abbildung einer Pfeife. Darunter steht: „Dies ist keine Pfeife.“

Dr. Brian Cooper, 9. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Brahms-Zyklus mit Chamber Orchestra of Europe, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent Baden-Baden, Festspielhaus, 7. Juli 2023

The MET Orchestra, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent Baden-Baden, Festspielhaus, 2. Juli 2023

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