Die Schlagergang zerschlagert lustvoll meinen Schreibplan

Die Schlagergang live, Café Eigenleben, München, 4. März 2023

Foto: Café Eigenleben, © Anne Bauer

Café Eigenleben, München, 4. März 2023

Die Schlagergang live im Eigenleben

von Frank Heublein

An diesem Nachmittag bin ich richtig gut mit der Textproduktion vorangekommen. Konzertrezension vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks vom Vortag vor dem Vormittagstermin der Spielzeitpräsentation fertig gestellt. Die Information dazu auch schon fast fertig. Jetzt eine ruhige gemütliche Schreibpause mit Kaffee und Kuchen.

Pustekuchen. Die Bude ist voll. Was ist das Café Eigenleben? Eine Begegnungs- und Austauschstätte für Generationen in München bei mir um die Ecke. Mit leckeren selbstgebackenen Kuchen. Gemütlichen Ambiente. Dahinter steckt ein gemeinnütziger Verein, ein tolles Konzept. Einen Teil erlebe ich in diesem Augenblick, ganz plötzlich, weil ich mal wieder das Programm nicht wahrgenommen habe bei meinen letzten Besuchen.

Wenn ich später am Abend gelegentlich die TV Programme zappe, bleibe ich, ich gestehe!, zuweilen im SWR hängen bei Sendungen, die „die Hits der …1980er, …1970er, …1960er“ heißen. Die 80er Jahre, das ist meine Teenager Zeit, da kann ich mich zurückträumen. Bei den Jahrzehnten davor wird mein Hang hängenzubleiben emotional zwielichtiger. Irre Haarmode, die Dauerwelle ist zuweilen synchron zu den Dekoelementen im Hintergrund gewellt. Oder anders herum? Aus heutiger Sicht hölzern spröde Setups, da singt halt jemand. Warum machen die den Auftritt in der, Moment… Fußgängerzone?! Das Publikum schaut einigermaßen belämmert. Brauchen Sie mehr Beispiele? Also: was zieht mich da rein? Was hält mich fest am deutschen Schlager?

Die Schlagergang,Café Eigenleben © Anne Bauer

Das ist genau die Frage, die ich mir ernsthaft stelle an diesem Nachmittag. Zweifelsohne: es zieht mich rein. Ich habe großes Vergnügen auf dem wackeligen Barhocker, bei dem mir erst nach einigen Momenten einfällt, dass ich diesen soweit herunterlassen kann, dass ich meine Füße auf den Boden stellen, nein! wippen lassen kann.

Die Schlagergang sind Ines Wagner, Gesang und Gitarre, Thomas Schuh, Gesang und E-Bass und Jonas Frank, Gesang und Akkordeon. Sie singen Schlagerklassiker der 1950er bis 1970er Jahre. Manche der Schlagertexte sind fahrlässig, manche unwoke, manche klug, manche anrührend und allen gemeinsam ist, dass sie mich in good vibrations versetzen, auch wenn die Beach Boys nicht Teil des Angebots des Nachmittags sind.

Um es klarzustellen: all die oben genannten Zuweisungen treffen auf fremdsprachige Liedtexte ganz genauso zu. Manche Songs sind „nur“ Übersetzungen von Hits aus anderen Ländern, die dieselben Menschen dann eben nicht auf Französisch, sondern auf Deutsch singen, etwa France Gall. Manchmal wird auf eine Hitmelodie eines Fremdlandes ein deutscher Text aufgepfropft. Wer sich über die doofen deutschen Liedtexte beschwert, sollte besser niemals Englisch lernen, um Songtexte etwa der Beatles nachzuvollziehen. Philosophie und Anspruch geht auch da zuweilen anders.

Zurück zur Frage des Nachmittags: was hält mich fest?

Das Publikum! Das mitklatscht, mitsingt, schunkelt. „Voll krasse Stimmung, Alter“ wäre das gesprochene Urteil zwei Generationen jünger als meine. Auch getanzt wird. Keine leichte Aufgabe in dem bevölkerten Raum. Der lodernde Funke, wie ein ehemaliger Ministerpräsident Bayerns anmerken würde, springt über.

© Anne Bauer

Das liegt an der Schlagergang. Die frisch, locker, ungezwungen mit Spaß und Verve an der Schlagersache ist. Auf die Umgebung eingeht, die wunderbarer Weise existierende Gaby im Publikum anhimmelt. Die aus voller Kehle mitsingt mit Jonas Frank „Schön war das Wandern von einer zur andern / Doch tausend Mal so schön / Ist es bei Gaby, bei meiner Gaby / Ihr solltet Gaby mal sehn / Dann würdet ihr mich verstehn“. Das rockt den ganzen Saal.

Die Umgebung, der Moment sind richtig. Ich kuschele mich in die Songs. Zwei Apfelsinen im Haar kann man heute wie gestern als ironisch sarkastischen Beitrag gegen die Modewelt begreifen: „Zwei Apfelsinen im Haar / Und an der Hüfte Bananen / Trägt Rosita seit heut / Zu einem Kokosnußkleid / […] Weil, wenn Rosita tanzt, ein Jeder sofort von ihr weiss: / Was sie heute trägt und wie sie tanzt, das ist Mode“. Der Liedtext könnte aber auch in die Kategorie unwoke fallen: Kokosnußkleid, das geht heute doch gar nicht mehr.

Wenn es losgeht mit „Rada rada radadada“ bin ich verloren, das ist ein cooler Song, hat Herz und auch herben Sinn. Drückt er doch die Ängste der jungen Frau deutlich aus: „Was will der blöde Kerl da hinter mir nur? […] Jetzt wird mir diese Sache langsam mulmig / Ich fahr’ die allernächste Abfahrt raus!“ Doch der Zuhörer weiß: von dem Typen droht keine Gefahr, der ist total entspannt, gleitet dahin: „Wie schön, dass ich heut’ endlich einmal Zeit hab’ / Ich muss nicht rasen, wie ein wilder Stier“. Kennen Sie heute noch solche Typen auf der Autobahn? Ich eher nicht.

Was ist „Du hast den Farbfilm vergessen“ interessant: „Tu das noch einmal, Micha, und ich geh / Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael / Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war, haha, haha / Du hast den Farbfilm vergessen bei meiner Seel / Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr“. Beziehungsdramen entwickeln sich heute zwar anders, also dass der Smartphoneakku alle ist und das nächste Instagrambild nicht gepostet. Emotional und handlungstheoretisch gleichwertig aber allemal aus meiner Sicht.

Ein Leben ohne Schlager ist möglich… aber sinnlos! Steht auf dem Flyer der Schlagergang. Klingt einfach. Es ist einfacher als ich dachte bei mir. Zu fast jedem Song bekomme ich eine schnelle Beziehung, Reflektion, Gedanken an früher und und und. Das also hält mich fest am deutschen Schlager: „Spiel noch einmal für mich, Habanero / Denn ich höre so gerne dein Lied / Spiel noch einmal für mich von dem Wunder / Das doch nie für dich geschieht“ Wow. Hier geschieht es, für mich.

Frank Heublein, 04. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Programm:

Set 1

Souvenir Souvenir

Ein Student aus Uppsala

Die Liebe ist ein seltsames Spiel

Ich zähle täglich meine Sorgen

Immer wieder Sonntags

Ein Schiff wird kommen

Seemann deine Heimat ist das Meer

Junge komm bald wieder

Ich liebe das Leben

Die süßesten Früchte

Spiel noch einmal für mich Habanero

Tipitipitipso

Speedy Gonzales

Itsy Bitsy Teenie

Rosamunde

Zwei kleine Italiener

Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett

Kriminal Tango

Lady Sunshine

Mitsou

Café Oriental

Rote Lippen soll man küssen

Set 2

Liebeskummer lohnt sich nicht

Marina

Zwei Apfelsinen im Haar

Das bisschen Haushalt

Für Gaby tu ich alles

Ich will nen Cowboy als Mann

Schön ist es auf der Welt zu sein

Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen

Dich gibts nur einmal für mich

Du hast den Farbfilm vergessen

Schuld war nur der Bossa Nova

Ich will keine Schokolade

Ich weiß was Dir fehlt

Pigalle

Du kannst nicht immer 17 sein

Heimweh

Sugar Sugar Baby

Schmittchen Schleicher

Ich möcht der Knopf an deiner Bluse sein

Ein Gedanke zu „Die Schlagergang live, Café Eigenleben, München, 4. März 2023“

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