Wie wird woanders getanzt? Wir gehen mit Ballettfreunden auf Reisen

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VII  Staatsoper Hamburg, 12. Januar 2024

Moskau, 25. Oktober 2017, Tschaikowsky Festsaal, nach der Aufführung der Matthäuspassion, John Neumeier und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, rechts davon Landesbischof Bedford-Strohm, links von John Neumeier der Botschafter Freiherr von Fritsch; ganz links der Dirigent Simon Hewett, ganz rechts der Ballettmeister Ivan Urban (Foto RW)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VII

Aber wie wurde in Moskau und St. Petersburg getanzt? Technisch hochgedrillte Tänzerin­nen und Tänzer zeigten artistische Meisterleistungen, blieben aber darstellerisch zumeist blass und konnten, von Ausnahmen abgesehen, den von ihnen getanzten Prinzessinnen und Prinzen kein richtiges Leben einhauchen.

von Dr. Ralf Wegner

Erstmals nahmen wir 2012 an einer von dem Dramaturgen Richard Eckstein geleiteten Ballett­reise nach Moskau teil, unter entscheidender Mitwirkung der Ballettbetriebsdirektorin des Hamburg Balletts Ulrike Schmidt. Ein halbes Jahr später folgte St. Petersburg. Weitere Ballett-Reisen mit Richard Eckstein und Ulrike Schmidt führten uns noch im selben Jahr nach Den Haag und Amsterdam sowie 2014 nach London, 2015 nach Oslo und 2017 noch einmal nach Moskau.
Auf eigene Faust reisten wir für Ballett-Aufführungen nach New York zum dortigen City Ballett, nach Paris sowie nach Kopenhagen zu einer Aufführung von Neumeiers Kameliendame, nach Venedig, wo im Fenice Tod in Venedig vom Hamburger Ballett aufge­führt wurde, und auch immer wieder nach Berlin und München sowie anderen Ballett-Städten in Deutschland, auch nach Stuttgart.

Nach Ende der Vorstellung und nach dem Verlassen der Zuschauer öffnet sich für die auf der Bühne Mitwirkenden noch einmal der Vorhang und gibt den Blick frei auf den festlich erleuchteten Zuschauerraum. Von oben nach unten, Moskau: Bolschoi-Theater, St. Petersburg: Mariinsky-Theater, London: Royal Opera House Covent Garden (Fotos: RW)

Ulrike Schmidt, die über sehr gute Kontakte zu den jeweiligen Ballettensembles verfügte, führte uns zu Proben in die dortigen Ballett-Institute und nach den Aufführungen auch hinter den Vorhang auf die Bühne. So erhielten wir Einblick in Proben im berühmten St. Peters­burger Waganowa-Institut und lernten die Ausmaße der Bühnen des Mariinsky- und des Bolschoi-Theaters oder des Londoner Royal Opera House Covent Garden kennen. Auch gelang­ten wir dort in Kontakt mit den Ballettdirektoren sowie den Tänzerinnen und Tänzern der jewei­ligen Ensembles. Höhepunkt war allerdings eine Aufführung des Hamburg Balletts mit der Matthäuspassion im Moskauer Tschaikowsky-Konzertsaal, bei der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anwesend war.

Opulente Bühnenausstattung im St. Petersburger Mariinsky-Theater: La Bayadère (Foto RW)

Am interessantesten war wohl die Reise nach Moskau im Oktober 2012, dort schneite es schon und war feuchtkalt. Das stets ausverkaufte Bolschoi-Theater zeigte wohl zwischen 70 und 80 Ballett-Aufführungen im Jahr, jedenfalls nicht viel mehr, soweit ich mich richtig erinnere, und das bei einem Ensemble von etwa 300 Tänzerinnen und Tänzern. Die Eintrittskarten erwiesen sich als exorbitant teuer, der Reiseveranstalter soll um die 400 Euro für Karten bezahlt haben, deren aufgedruckte Preise unter 100 Euro lagen. Bei der Führung durch das Bolschoi-Theater wurde uns das System erklärt. Der Staat finanziere das fest angestellte Personal, Förderer das künstlerische Personal. Dafür erhielten diese Kartenkontingente, die sie wiederum verkaufen könnten. Durch künstliche Mangelwirtschaft, also zu wenige Ballett-Aufführungen für zu viele Besucher, stiegen damit infolge Verknappung von Eintrittskarten deren Preise, so dass die Förderer wohl eher keinen finanziellen Verlust hinnehmen mussten.

Fünf Jahre später hatte dieses System ausgedient, die Anzahl der Ballett-Aufführungen war gestiegen und die Kartenpreise entsprachen jenen in anderen großen bedeutenden Häusern. Ganz Moskau wirkte verändert, die Hauptstraßen waren abends festlich illuminiert, das Personal in den Restaurants und Hotels verstand vermehrt Englisch, die ganze Stadt schien lebendiger, nach außen offener und der westlichen Kultur zugewandter: Tempi passati.

St. Petersburg, Mariinsky-Theater 13.04.2013, La Bayadère, Principal-Tänzer Vladimir Shklyarov im Gespräch mit Ulrike Schmidt, der Ballettbetriebsdirektorin des Hamburg Balletts; Shklyarov mit Graciela Wegner; Yuri Fateyev, Leiter des Mariinski Balletts (Fotos RW)

Aber wie wurde in Moskau und St. Petersburg getanzt? Technisch hochgedrillte Tänzerinnen und Tänzer zeigten artistische Meisterleistungen, blieben aber darstellerisch zumeist blass und konnten den von ihnen getanzten Prinzessinnen und Prinzen kein richtiges Leben ein­hauchen. Es gab aber auch Ausnahmen wie Vladimir Shklyarov oder den Ausnahmetänzer Kim Kimin, die wir 2013 in St. Petersburg erleben durften.

Moskau sowie St. Petersburg verfügten jeweils über weitere große Ballett-Truppen, die im Stanislawski- und im Michai­lowski-Theater tanzen. Dort sahen wir 2012/13 die Ballette Don Quichotte und Le Corsaire. Allein in diesen beiden Städten gab es insgesamt mehr als 1.000 professionelle Tänzerinnen und Tänzer. Auch heute noch beträgt die Anzahl der am St. Petersburger Mariinsky- und am Moskauer Bolschoi-Theater tätigen Tänzerinnen und Tänzern jeweils zwischen 200 und 300 auf den jeweiligen Webseiten namentlich genannten Personen.

Moskau, 25.10.2017, Matthäuspassion im Tschaikowsky Festsaal, das Hamburger Ensemble (Foto RW)

Wie wurde Neumeiers Version der Bachschen Matthäuspassion in Moskau aufgenommen? Der große Tschaikowsky-Festsaal schien nicht ganz ausverkauft gewesen zu sein, jedenfalls sah man zu Beginn der Aufführung noch freie Plätze. Während der Aufführung und auch in der Pause verließen einige Besucher das Theater, offenbar überfordert von der zum Teil sehr ins Intime und Persönliche gehenden Darstellung der Geschehnisse um die letzten Tage Jesu. Vielleicht hatte man auch artistische Leistungen, die ja ansonsten das Moskauer Ballett-Leben bestimmten, vermisst. Ich schätze, dass am Ende noch etwa Dreiviertel der Plätze besetzt waren, und der abschließende Beifall war für Moskauer Verhältnisse, anders als im Bolschoi- und Stanislawski-Theater erlebt, außerordentlich langandauernd und sehr herzlich.

Sonst gab es regelhaft, auch bei ausverkauften Vorstellungen, nur kurzandauernden, bald abebbenden Jubel für die Protagonisten, wenn sie denn ordentlich gesprungen und gedreht hatten. Insoweit war der Auftritt des Hamburg Balletts mit John Neumeiers Matthäuspas­sion, der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beiwohnte, nicht nur für Neumeier, seine Truppe, sondern auch für den Ruf Hamburgs und Deutschlands ein besonderes Er­eig­nis.

Moskau, 25.10.2017, Matthäuspassion im Tschaikowsky Festsaal, John Neumeier mit dem Jesusdarsteller Marc Jubete und dem Ensemble (Foto RW)

Dr. Ralf Wegner, 12. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Nächste Folge „Als das Ballett während Corona in vielen Städten darbt, schafft John Neumeier mit Ghost Light ein kammerchoreographisches Meisterwerk“ am Dienstag, 16. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburger Ballett unter John Neumeier, Teil I Staatsoper Hamburg, 15. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II Staatsoper Hamburg, 19. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III Staatsoper Hamburg, 22. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V Staatsoper Hamburg, 5. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI Staatsoper Hamburg, 9. Januar 2024

 

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