Ein Opernerlebnis bleibt etwas Unentschlüsselbares. Ist die erste Begegnung mit einem Werk etwa unüberbietbar? Um für diese Frage eine Antwort zu finden, blätterten wir in unsren akribisch geführten Ordnern in den Besetzungslisten.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Der erste Gurnemanz hat in Otto von Rohr von der Württembergischen Staatsoper den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen, obwohl wir in dieser Partie später nur Spitzensänger hörten. Ebenso verhielt es sich mit dem ersten jungen Ritter aus Franken in den „Meistersingern“ in Person von Wolfgang Windgassen. Verträumt vergegenwärtigte ich mir als Teen bei Wanderungen in der Natur sein „Morgenlich leuchtend“ mit seinen leuchtenden eingestrichenen g’s und a’s. Warum fehlte ein bleibender Eindruck der Zentralfigur des Hans Sachs? Hier machte sich die Konkurrenz der Schallplatte spürbar. Eine Single mit den berühmten Monologen gesungen von Paul Schöffler legte die Messlatte noch vor einer Begegnung mit der Oper auf der Bühne zu hoch.
Als meine Frau und ich im „Haus und Salon Hofmannsthal“ vor etlichen Jahren eine Veranstaltung zu Ehren dieses berühmten Bassbaritons besuchten und Tonbeispiele gebracht wurden, mussten wir feststellen, dass wir diese Aufnahme in unsrem Gedächtnis idealisiert hatten, so dass seine großen B’s und A’s im Fliedermonolog jetzt gar nicht so dunkel und markant klangen.
Das bisher Gesagte würde die Theorie nahelegen, dass der allererste Eindruck unauslöschlich, unüberbietbar und überdeckend bleibt. Doch diese Mutmaßung fällt in sich zusammen, wenn wir andere Opernaufführungen ins Gedächtnis rufen und betrachten. Ein gutes Beispiel ist hier die „Ariadne auf Naxos“. Das Mit-Leben und Mit-Fühlen mit den Idealen und Sehnsüchten des Komponisten erfolgte erst bei der fünften „Ariadne“. Gertrude Jahn feierte ihr Rollendebüt, nachdem sie schon einige Zeit als Baumnymphe in diesem Werk gegenwärtig war. Eine Steigerung erfuhren wir in jüngerer Vergangenheit und seither unübertroffen mit Sophie Koch. Wir schrieben im „Neuen Merker“ voll des Enthusiasmus: „An dem Abend erreichten ihre dramatischen Höhenflüge und Temperamentsausbrüche eine Raumfülle, die das im Text Ausgesagte geradezu übersteigt.“ Ähnlich erging es bei der Titelfigur. Erst die Leonie Rysanek wurde zur Offenbarung, gefolgt von der Janowitz und der begnadeten Strauss-Interpretin Julia Faulkner, wobei die zwei erstgenannten Damen noch im Kopf nachklingen, während wir von der Amerikanerin nur mehr konstatieren und registrieren können, dass sie zu den besten Drei zählt, die wir je in dieser Partie gehört haben.
„Ella giammai m’amò.“ Wenn ich das lese, so beginnt in mir Paul Schöfflers Stimme zu klingen, obwohl er diese bittere Einsicht am 16. Juni 1959 in einer gemischtsprachigen Aufführung auf Deutsch sang. Warum nicht Nicolaj Gjaurow, Martti Talvela oder erst vor zehn Jahren Ferruccio Furlanetto? Schöffler hatte das charakteristischste Timbre.
Die erste Strauss’sche Elektra war zwar mit Gerda Lammers „elektrisierend“, aber eingeprägt hat sich Birgit Nilsson. Als eine gänzlich andere Ausrichtung, weniger heroisch-dramatisch, hat uns bei den Salzburger Festspielen die Litauerin Aušrinė Stundytė gefallen, doch ist uns diese Interpretation noch zu neu und ungewohnt, aber wir hoffen auf eine derartige Wiederbegegnung.
In Bernsteins „Mass“ folgt auf das Gloria eine Ausschmückung mit Sopran-Solo: „Es waren einmal Tage, so schön, und Nächte, als jeder Grillenruf angenehm schien, und ich sang Gloria… Und nun ist alles irgendwie fremd…“ Besonders erschütternd erlebten wir diese Trope in einer vorösterlichen Aufführung im Semper Depot in Wien. Regisseur Hendrik Müller wählte den Ausgang, dieses junge Mädchen mit ihrem innigen und so zarten Sopran zerbrechen und sich das Leben nehmen zu lassen.
Die Erinnerungen an Peter Grimes sind ein Mix verschiedener Aufführungen und Produktionen. In Zürich beeindruckte sehr stark der Chor, am Theater an der Wien die nahezu choreografische, ein Bühnenbild ersetzende Betreuung dieses Chors.
Und Agneta Eichenholz war die berührendste aller von uns gehörten Ellen Orfords. Erst durch sie erlebten wir diese Rolle in seiner Perspektive und nicht flächig.
Wir wissen, dass uns Leonie Rysanek als Salome begeisterte, obwohl wir uns sie in dieser Rolle von unserer heutigen Sicht des Stücks nicht mehr vorstellen können. Zu sehr hat das sogenannte Regietheater auch Einfluss auf die gesangliche Interpretation genommen.
Wir haben zwei exzellente Dalilas erlebt. Marjana Lipovšek und Elīna Garanča. Dass wir nur mehr die Lettin „im Ohr haben“, kann bei so gleichwertigen Sängerinnen bloß daran liegen, dass das Erlebnis der ersten Dalila schon gute dreißig Jahre zurückliegt, was man früher eine Generation nannte.
Wir verstehen nicht, dass bei Abenden mit Janáčeks „Das schlaue Füchslein“ so viele Kinder mit Stofftieren im Arm zu sehen sind. Mein erster Eindruck dieser Oper im Linzer Landestheater fiel in eine schwierige Lebensphase. Die Melancholie, die ich bei der Oper damals empfand, blieb.
„Death in Venice“ am Ort der Handlung zu erleben war gewiss ein großes Ereignis. Näheres in Schweitzers Klassikwelt 64 – „Wir sammeln Programmhefte“.
Britten formt Gustav von Aschenbachs Gedanken in Monologform oft in Sprechgesang mit musikalischer Steigerung, ziemlich zurückhaltend die orchestrale Begleitung. Was machte diese Produktion der Britten-Oper in der Wiener Volksoper als Abschluss der Ära Robert Meyer so einzigartig? Vielleicht hat die erst jetzt erfolgte Lektüre der dem Werk zugrunde liegenden Novelle sensibilisiert, wenn Thomas Mann dort schreibt: „Beobachtungen und Begegnisse eines Einsam-Stummen sind eindringlicher als die des Geselligen, seine Gedanken schwerer, wunderlicher. Wahrnehmungen, die mit einem Blick, einem Lachen, einem Urteilsaustausch leichthin abzutun wären, beschäftigen über Gebühr, vertiefen sich, werden bedeutsam.“
Obwohl wir uns als Opernfans zur Birgit-Nilsson-Generation zählen, nicht aus dem Kopf gegangen ist uns die Süd-Koreanerin Jee-Hye Han als Turandot in der Volksoper Wien, die keine eisgegürtete hochdramatische Prinzessin war und Sympathie erweckte. Siehe Näheres in Schweitzers Klassikwelt 46 – „Operntexte und Operninhalte kritisch betrachtet“.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 9. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 103: Die Sängerstimmen klassik-begeistert.de, 12. Dezember 2023
Schweitzers Klassikwelt 79: Primadonna klassik-begeistert.de, 10. Januar 2023