Foto: C. Höhne (c)
Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela
Dirigent: Gustavo Dudamel
Ludwig van Beethoven (1770 – 1827)
Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 (1811 – 1812)
Sinfonie Nr. 8 F-Dur op. 93 (1811 – 1812)
Elbphilharmonie, 22. März 2017
Von Sebastian Koik
Dieses Orchester ist ein ungewöhnliches, das dahinterstehende Nachwuchsförderungskonzept in seinen Ausmaßen gewaltig und einmalig in der Welt. Das venezolanische Musikprogramm „El Sistema“ verdient höchsten Respekt und erhält viel Bewunderung weltweit. Ungewöhnlich ist auch der Bühnenauftritt des Orchesters: Die Musiker kommen nicht wie üblich geschlossen in kontinuierlichem Strom auf die Bühne um ihre Plätze einzunehmen, sondern trudeln in mehreren Chargen mit großen Pausen herein.
Man fragt sich, ob das südamerikanische Lockerheit oder Undiszipliniertheit ist oder ob man sich damit bewusst vom altehrwürdigen, traditionellen europäischen Orchester unterscheiden will. Zu guter Letzt tritt der Konzertmeister dann auch noch alleine nach dem Orchester auf.
Auf dem Programm steht zuerst die 7. Sinfonie von Ludwig van Beethoven – der Komponist soll gesagt haben, es sei eines seiner besten Werke. Und es ist wahrlich ein wunderbares Werk! Die 7. Sinfonie gehört zu Beethovens heitersten und lebensfrohesten Sinfonien. Und es war bei seinem Erscheinen ein sehr ungewöhnliches Werk, das hauptsächlich auf Rhythmus basiert. Vielleicht am treffendsten hat der französische Schriftsteller, Musikkritiker und Nobelpreisträger Romain Rolland diese Sinfonie als „Orgie des Rhythmus“ charakterisiert. Als Rhythmus, nicht als Tanz, denn jeder melodische Ansatz wird sofort vom Rhythmus überrollt.
Die Uraufführung 1813 in Wien war einer von Beethovens größten Triumphen, die Zuhörer waren begeistert und elektrisiert. Beethoven verstand sich als eine Art Prometheus, dessen Ziel es war, mit seinen neuartigen Kompositionen und deren Feuer die Intelligenz und den Freiheitswillen der Menschen zu entzünden. Und das vermag diese Sinfonie! Wer vom letzten Satz dieser Sinfonie nicht mitgerissen wird, ist wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Für die vom Komponisten selbst geleitete Uraufführung in Wien versammelte Beethoven die besten Musiker, die er bekommen konnte. Auch heute noch bekannte Namen wie Antonio Salieri, Louis Spohr und Johann Nepomuk Hummel waren darunter.
Gustavo Dudamel, prominentester Zögling des Nachwuchsförderungsprogramms „El Sistema“, leitet mit dem Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela nicht nur das bekannteste, sondern wahrscheinlich auch das beste Orchester aus Südamerika an. Und wie spielen die Gäste aus Venezuela diese großartige Komposition Beethovens? Den ersten Satz würde ich mir quirliger, spritziger, lebendiger dargeboten wünschen. Vor allem die Streicher. Bei den lauten Stellen ist das Orchester teilweise nicht kraftvoll und mutig genug. Doch das ist Kritik auf sehr hohem Niveau. Sie spielen gut.
Im zweiten Satz und bei den leiseren Stellen klingt das Orchester sehr warm und wirklich sehr schön. Die jungen Musiker spielen mit viel Leidenschaft und mit Liebe für Melodien. Melodien, die immer sehr stark vom Rhythmus getragen werden. Jetzt ist das Orchester auch bei den lauten Stellen mutiger, kraftvoller, beherzter. Es ist Spannung in der Musik da – nicht in optimaler Ausprägung, doch durchaus vorhanden. Das ist nicht selbstverständlich. Auch die berühmtesten Orchester sind in diesem Punkt nicht immer besser als die jungen Musiker aus Südamerika. Ja, dieser zweite Satz wird wirklich sehr schön und mit hörbarer Hingabe gespielt!
Der dritte Satz ist sehr schnelle, lebhafte, quirlige Musik. Die Musiker sind hier teilweise nicht präzise und schneidig genug, scheinen in solchen Passagen manchmal ein klein wenig überfordert zu sein. Das Orchester spielt auch in diesem Satz kraftvoller und überzeugender in den lauten Stellen. Die Blechbläser erklingen teilweise wunderbar strahlend in Schönheit.
Der vierte Satz hat einen spritzigen, beherzten Start. Jetzt ist das Orchester schneidig. So muss das sein! Die Musiker spielen kraftvoll, sauber und präzise in den schnellen Passagen. Auch die Streicher präsentieren sich zusammen mit dem kompletten Orchester ganz wunderbar und in Hochform. Die Kräfte des Orchesters sind an diesem Abend auf das Ereignis dieses letzten Satzes der 7. Sinfonie konzentriert! Es ist große Spannung in der Musik. Die Musiker setzen die kraftvolle Komposition packend und mitreißend um. Ihre Spielfreude ist jetzt überragend. Mehr geht nicht! Dieser Auftritt des Orchesters im letzten Satz ist große Klasse und macht Spaß. Er bewegt mit Feuer, mit Macht. Er packt und fesselt das Publikum.
Ein junger zweiter Geiger spielt so unglaublich hingebungsvoll und mit ausladendem Körpereinsatz, vor Freude fast zerberstend, dass es die helle Freude ist und man dankbar ist, dies mitzuerleben. Wer weiß, wo dieser junge Mann jetzt wäre, wenn es dieses großartige venezolanische Nachwuchsprogramm nicht gäbe. Unglaubliche 826.619 Kinder haben dieses Musikprogramm bisher durchlaufen. Und man kann sich nicht vorstellen, dass dieser begeistert strahlende, musikerfüllte junge Mann an diesem Abend irgendwo anders auf der Welt sein wollte und irgendetwas anderes tun wollte, als dieses Konzert zu spielen!
Der Dirigent Gustavo Dudamel macht ebenfalls enorme Freude. Er wirkt in jedem Moment unglaublich charmant. Er grinst und lächelt zauberhaft und strahlt wie ein netter Junge. Und er dirigiert mit extremer Souveränität und Natürlichkeit. Der musikalische Höhepunkt ist einer der lautesten, den Beethoven schrieb. Dafür erfand er das dreifache forte: sehr, sehr laut. Und dieses Orchester liebt die lauten Stellen, ist hier oft am besten – vor allem im Finale dieser 7. Sinfonie.
Die 8. Sinfonie ist sehr kurz, nur etwa 25 Minuten lang. Das Orchester spielt sie im ersten Satz mit viel Spannung – in den schnelleren Passagen allerdings oft unsauber, ganz besonders die Pauke! Doch wie im ersten Stück des Abends scheint es eine clevere Konzentration der Kräfte zu geben. In den wichtigsten Passagen gelingt den Musikern auch das schnellere Spiel ganz gut. Sie spielen mitreißend, doch die regelmäßigen Unsauberkeiten im Spiel trüben den Hörgenuss.
Während der erste Satz noch gut dargeboten war, fehlt es den folgenden Sätzen bis zum Finale an Spannung und Esprit in der Musik! Es kommt nicht viel rüber, die Musik berührt nicht. In den letzten drei Sätzen bewirkt das Gehörte keinerlei Verzauberung. Es verzaubert nur noch der Gedanke an die Schönheit des Musikprojekts „El Sistema“, die Ausstrahlung des Dirigenten und die unverstellte, sichtbare Freude am Musizieren des jungen Geigers in der ersten Reihe, rechts neben dem Dirigenten. Das Orchester selbst vermag über sehr weite Strecken nicht mehr zu fesseln.
Im Finale spielen die Venezolaner wieder sehr gut und nehmen die Zuhörer noch einmal mit. Das Publikum ist begeistert! Bravo-Rufe und ewiger Applaus. Der berühmte Dirigent Gustavo Dudamel tritt demütig und bescheiden auf, lässt sich nicht separat feiern, sondern überlässt dem Orchester den kompletten Beifall. Wenn er beim Applaus auf der Bühne ist, stellt er sich immer ins Orchester und wird damit endgültig zum vollendeten Sympathieträger.
Sebastian Koik, 23. März 2017
für klassik-begeistert.de