Foto: Toni Suter ©
Opernhaus Zürich, 14. März 2019
Gaetano Donizetti, Lucia di Lammermoor
von Charles Ritterband
Die zehnminütige Standing Ovation nach dieser großartigen „Lucia“ im Opernhaus Zürich galt nicht dem unbestrittenen Star des Abends, der phänomenalen armenischen Sopranistin Nina Minasya in der Titelrolle, sondern dem schon zu Lebzeiten legendären Publikumsliebling Nello Santi: Mit nunmehr fast 90 steht der unermüdliche Italiener immer noch am Dirigentenpult und holt aus dem Zürcher Orchester die ganze temperamentvolle und sentimentgeladene „Italianità“, die Donizetti den Musikern abverlangt.
Einmal mehr unterstützte die hervorragende Akustik dieses edlen, vom Architektenteam Fellner und Helmer 1891 entworfenen Baus die ebenso gefühlvoll wie präzise musizierende Philharmonia Zürich. Der Maestro, den ich selbst noch als junger Student in der Arena di Verona mit diversen Verdi-Opern erlebte – gefeiert schon damals – hatte vor sechzig Jahren am Opernhaus Zürich seine erste „Lucia“ dirigiert. Zum Schlussapplaus auf der Bühne musste der große Meister des Verismo und Belcanto von den Sängern gestützt werden, doch unten am Pult war Santi von Alter und Gebrechlichkeit nicht das Geringste anzumerken – dort entfaltete er jugendliche Begeisterung, die er auf Orchester und Sänger übertrug. Lucia ist offenbar eine von Santis Lieblingsopern – das Sextett am Ende des 2. Aktes ist für Santi „das schönste Ensemble des ganzen italienischen Opernrepertoires“. Selbst die oft gehörte Behauptung, dass das Libretto von Salvatore Cammarano dramaturgisch schwach sei, bestreitet Santi. Gerade die drei letzten Szenen seien von der Handlung her zwingend und musikalisch bewegend.
Die Inszenierung von Robert Carsen war eine der meistgespielten und erfolgreichsten Inszenierungen dieses Hauses; die seit rund zehn Jahren gezeigte, moderne Nachfolge-Inszenierung des jungen italienischen Regisseurs Damiano Michieletto hat sich inzwischen kaum weniger erfolgreich etabliert. Ein verglaster, schief stehender Hochhaus-Turm mit zerbrochenen Scheiben und sinnlos ins Leere ragenden Stahlträgern verkörpert die aus dem Lot gebrachte seelische Welt der Protagonisten. Und einer dieser Stahlträger wird zum Sprungbrett für Lucias Selbstmord, den verzweifeltem Sprung in die Tiefe – und man fragt sich als Zuschauer unwillkürlich, ob für diesen risikoreichen Regieeinfall ein Stunt zum Einsatz kam.
Die Liebe der beiden Protagonisten, Lucia und Ashton, scheitert an den Konsequenzen einer alten Familienfehde – und Lucia wird durch einen gefälschten Brief irre und in den Irrsinn geführt. Man denkt daran, dass die Sentenz aus Goethes Faust , was man Schwarz auf Weiss besitze, könne man „getrost“ nach Hause tragen, eine sarkastische Feststellung des Teufels ist. Lucia wird nicht nur Opfer brutaler Intrigen, sondern auch ihrer Naivität – sie hinterfragt nicht die Authentizität des ihr als „Beweis“ für die Untreue Edgardos vorgelegten Schriftstücks.
In dieser Inszenierung wird Edgardo mit brutalen Mafia-Methoden „fertig gemacht“, eine zwielichtige Gesellschaft in Cocktaildress und Smoking schüttet Champagner über den verwundet am Boden Liegenden – „adding insult to injury“, wie der Engländer sagt. Ob das so prägnant illustrierte Mafia-Mileu und die unübersehbare Sozialkritik an einer oberflächlichen, korrupten Oberschicht auf die italienische Prägung des Regisseurs zurückzuführen ist? Brutal beginnt bereits diese Inszenierung – eine Kompanie Soldaten mit halbautomatischen Waffen im Anschlag und einem (überaus disziplinierten) deutschen Schäferhund auf Razzia. Der Kontrast zu Belcanto und gefühlvollen Tönen könnte stärker nicht sein.
Unbestritten Weltklasse hatte die Lucia der Nina Minasya. Sie ist eine würdige Nachfolgerin der früheren (mittlerweile wie Santi geradezu legendären) Platzhalterin der „Lucia“ in Zürich, Edita Gruberova. Minasyas Stimme verfügt über blumigen Wohlklang, völlig schwerelos schwebt sie in den Pianissimi und schwingt sich in bestem Belcanto zum kraftvollen Forte. Ihr Zuzuhören ist ein Hochgenuss und in der fast übermenschlich anspruchsvollen Wahnsinnsarie vollbringt sie sängerische Höchstleistungen. Dass sie noch dazu eine wunderschöne Frau ist, unterstützt die Wirkung ihrer phänomenalen Stimme.
Trotz überaus freundlichem Applaus des Zürcher Publikums hatte ihr Partner, der im andalusischen Jerez de la Frontera geborene Tenor Ismael Jordi einen schweren Stand neben dieser phänomenalen Lucia. Seiner Stimme fehlt es ebenso an Schmelz, an Wohlklang, wie an Stärke. Er brachte seine Partien anstandslos über die Runden – aber zu begeistern mochte er nicht, zumal an der Seite von Nina Minasya.
Höchstleistungen hingegen erbrachten die beiden Bösewichte und demnach Baritone dieser Oper, Roman Burdenko als Lucias Bruder Lord Enrico Ashton und der intrigante Kaplan Raimondo (Wenwei Zhang). Vor allem Burdenko trat mit imposanter stimmlicher und Bühnenpräsenz als unversöhnlicher Widersacher Edgardos auf.
Dr. Charles E. Ritterband, 15. März 2019, für
klassik-begeistert.ch und klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung: Nello Santi
Inszenierung: Damiano Michieletto
Bühne: Paolo Fantin
Kostüme: Carla Teti
Choreinstudierung: Janko Kastelic
Lucia Ashton: Nina Minasyan
Lord Enrico Ashton: Roman Burdenko
Sir Edgardo di Ravenswood: Ismael Jordi
Lord Arturo Buklaw: Omer Kobilijak
Raimondo Bidebent: Wenwei Zhang
Alisa: Gemma Ni Bhriain
Normanno: Jamez McCorkle
Philharmonia Zürich
Solo-Flöte: Maurice Heugen/Liselotte Schricke
Solo-Harfe: Julie Palloc
Chor der Oper Zürich