Foto: © Michael Pöhn
Richard Wagner, Parsifal
Wiener Staatsoper, 13. April 2017
Mit dem Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ von Richard Wagner ist es wie mit einem guten Rotwein: Es wird besser und besser, je öfter man es hört. „Parsifal“ ist gigantisch schöne Musik, das Lebensabschiedswerk eines Jahrtausendkomponisten. Parsifal betört die Sinne und macht süchtig, je länger man die Oper hört. „Parsifal“ beseelt. Es ist die Mega-Oper schlechthin – der Schnittpunkt auf dem Horizont, wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt.
Die Neuinszenierung des „Parsifal“ an der Wiener Staatsoper ist musikalisch und auch optisch – trotz allergrößter Kritik – ein Hochgenuss. Die Gesangsleistungen sind unterm Strich 1-A-Sahne. Opernliebhaber, die vier Stunden und 10 Minuten einer magisch-zarten bis überwogenden Komposition zu lauschen vermögen, sollten die nächste Gunst der Stunde nutzen, und im Haus am Ring einen Wagner hören, der sicherlich auch Richard Wagner gefallen hätte – auch wenn der Regisseur Alvis Hermanis die Handlung in das Otto-Wagner-Spital des Wien nach der vorletzten Jahrhundertwende verlegt hat: der sieche Gralskönig Amfortas wartet auf Erlösung in einer Nervenheilanstalt auf den Steinhof-Gründen.
Die Kritik des Standard ist nachvollziehbar: „Hermanis‘ Flug übers Wagner-Nest umgibt dann aber zu oft das Flair einer nicht konsequent durchgeführten Idee: Die Verlegung ins Otto-Wagner-Spital wird zwar zur reizvollen Raumpointe. Jugendstilelemente mit ihrer verschnörkelten Pracht können sich präsentieren, die Altarkuppel der Otto-Wagner-Kirche schwebt wie ein Luster von der Decke herab. Das Spiel mit Zeiten, Räumen und Stilen mutet jedoch letztlich zu oft nur dekorativ an. Die Verlegung der Erlösungsgeschichte in die Spitalssphäre bleibt inhaltlich unbegründet.“
Sicher: Der Regisseur aus Lettland bedient sich Wien-Klischees der vorletzten Jahrhunderwende: Die Couch des Siegmund Freud aus der Berggasse im 9. Wiener Bezirk taucht auf, Klingsors Zaubermädchen tänzeln in Unterwäsche aus der Jugendstilzeit – Arthur Schnitzlers „Reigen“ lässt grüßen – und versuchen, den Retter Parsifal zu verführen. Und ja: Die Personenführung ist sehr statisch.
Aber hallo: das hier ist Parsifal und nicht „Das Rheingold“. Und der „Parsifal“ ist schon in ganz andere – zum teil abstruse Zeiten und Räume – verlegt worden. Es gibt gute Gründe, dass die Gralsritter eine kranke Gesellschaft sind, dass der Speer, der die Wunde des Amfortas heilt, ein medizinischer Durchbruch ist und dass die wilde Reiterin Kundry am meisten durchgeknallt ist und im ersten Aufzug in ein Gitterbett gesperrt wird.
Erinnern wir uns an die letzte große „Parsifal“-Inszenierung aus Bayreuth im Juli 2016: Die Gralsritter verortete Uwe Eric Laufenberg, der Intendant des Hessischen Staatstheaters in Wiesbaden, in einer zerschossenen katholischen Kirche im Nahen Osten im heutigen Irak, der Wiege des Christentums. Flüchtlinge fanden auf Feldbetten Kirchenasyl. Die Aufführung war religionskritisch, aber auf gar keinen Fall „islamkritisch“, wie vor der Premiere zu hören war. Im zweiten Aufzug erschien Parsifal in einem Kampfanzug mit vollgepackten Munitionstaschen in Klingsors Zauberschloss, das sich als Harem entpuppte. Er war auf Abwege geraten auf einen Kreuzzug – erst im dritten Aufzug wurde er in der Begegnung mit Gurnemanz und Kundry geläutert. Jahre später kehrte er als Kämpfer in Ninja-Montur mit dem heiligen Speer zurück, der zum Kreuz geformt war…
Dagegen ist das Irrenhaus von Wien doch ganz normal. Aber es lässt sich nicht vom Tisch wischen: Die Buh-Rufe für die Regie waren laut, die Kritik mitunter scharf: „Was an der Wiener Staatsoper nun zu sehen ist“, monierte der Kurier, „ist die Mutter allen Scheiterns. Ein szenischer Tiefpunkt auf der nach unten offenbar doch offenen Skala des Missgelingens. Das Bühnenweihfestspiel wird hier zum Bühnen-Brei-Festspiel – zäh und langatmig, beliebig und belanglos.“
Die freundlichsten Worte in der Donaumetropole fand noch Die Presse – und konzentrierte sich – zu Recht – auf die großartige Musik, das großartige Orchester der Wiener Staatsoper und das großartige, gefühlvolle und wunderbar getragene Dirigat des Russen Semyon Bychkov: „Das Werk wird unter seiner Stabführung zu einem großen Adagio in drei Teilen. Bychkov nimmt sich Zeit, er realisiert, was Herbert von Karajan einst gefordert hat und was selten in solcher Konsequenz zu erleben ist: Die Taktstriche scheinen für einige Stunden abgeschafft. Die Musik fließt, verfließt. Bychkov spielt auf dem philharmonischen Instrument oder vielmehr: er spielt auf der Wagner-Kompetenz des Wiener Orchesters, er nutzt den Reichtum, den die Musiker anzubieten haben, um wie ein bildender Künstler auf einer Riesenpalette Farben anzumischen.“
Und weiter: „Klangfarbe ist im ‚Parsifal’ vielleicht Wagners wichtigstes Ausdrucksmittel, zaubert Stimmungen, Seelenbilder, sorgt für eine fortwährende Verwandlung. Denn kaum eine der Instrumentations-Nuancen wiederholt sich. Die musikalische Erzählung ist in stetem Fluss, selbst Erinnerungen an Gewesenes erscheinen stets in neuem Licht. Auch die exzellent realisierten Chorpassagen – in vielfacher Mischung mit Stimmen aus der Ferne, vielfach geteilten Solostimmen (Blumenmädchen, Knappen) und einem diesmal besonders beeindruckenden Glockengeläute – haben ihren Anteil an dieser fein verästelten Klangmalerei. Das konsequent herausgearbeitet zu haben, sichert Bychkovs ‚Parsifal’-Deutung, dem ruhigen Grundpuls zum Trotz, durchwegs Spannung.“
Das beste an diesem unterm Strich großartigen Abend in der Wiener Staatsoper waren die Sänger: Den meisten Applaus ersang sich zu Recht der für Hans-Peter König eingesprungene Bass Kwangchul Youn. Wirklich bärenstark, wie der Koreaner auftrat: Männlich, satt, viril; klangschön in allen Registern. Youn war, was Stimmintensität und Genauigkeit anbelangt, neben Nina Stemme als Kundry der herausragende Sänger und bot eine makellose Aufführung. Eine glatte „1“, würde man in der Schule sagen. Sehr mächtig, wenn es sein musste, sehr dunkel, angenehm sanft mit vorzüglichen Pianissimi und einer klaren, deutschen Aussprache gesegnet. Mit einem Wort: Weltklasse!
Die gute Nachricht: Youn ist als Gurnemanz bald wiederzuhören: im September 2017 an der Hamburgischen Staatsoper und im März 2018 an der Wiener Staatsoper. Ein Muss für wahre Wagner-Freunde.
Ja, und Nina Stemme als Kundry: auch sie war Weltklasse. Sie beherrscht ihr Instrument perfekt! Ihre tiefen Lagen: zum Schauern schön. Ihre Strahlkraft: enorm. Wuchtig. Mitreißend. Sie kann mit ihrer Stimme weinen und lüstern. Flüstern und schreien. Ihre Spielfreude: eine Augenwonne.
Dass Wagners Abschieds- und Meisterwerk, uraufgeführt am 26. Juli 1882 in Bayreuth, einen so großen Erfolg an diesem Gründonnerstag erzielte, lag unterm Strich gesehen auch am Parsifal selbst: Christopher Ventris. Der hat einen sehr klangschönen Tenor. Seine Stimme ist aber nicht mit der Strahlkraft eines Klaus Florian Vogt ausgestattet – zuletzt von klassik-begeistert.de als Parsifal in Bayreuth und an der Deutschen Oper Berlin bewundert. Im dritten Aufzug war zu hören, dass Ventris bei einigen leisen Stellen nicht mehr mit der erforderlichen Stützkraft sang. Dennoch: Es war eine schöne „2 +“, die der 56 Jahre alte Brite sich erarbeitete.
Der Bass Jochen Schmeckenbecher sang den Klingsor beißend-böse und ungemein prägnant; die Magie, die er bei seiner Paraderolle des Alberich entfaltet – ab 30. April 2017 in Wagners „Ring des Nibelungen“ an der Wiener Staatsoper –, bringt er im „Parsifal“ nicht auf die Bühne.
Der Bariton Gerald Finley sang den totkranken Amfortas überzeugend, könnte aber noch ein wenig nuancenreicher intonieren. Auch an seiner Phrasierung könnte er noch ein wenig arbeiten.
Der Bass Jongmin Park als Titurel bestach – wie so oft – mit einer sehr virilen, männlich-markanten Stimme. Er ist ein Juwel im Ensemble der Wiener Staatsoper.
Buhrufe gab es an diesem Abend nur ganz, ganz vereinzelt für die Inszenierung. Was überwog, waren großer Applaus und Bravi für die Sänger, für das Orchester, für den wie so oft sehr klangstarken Chor und für ein einfühlsames Dirigat.
Gehen auch Sie bald einmal wieder in einen „Parsifal“. Aber Achtung: Der Suchtfaktor ist enorm…
Andreas Schmidt, 14. April 2017
Klassik-begeistert.at