Foto: © Martin Sigmund
Christoph Willibald Gluck, Iphigénie en Tauride
Staatsoper Stuttgart, 19. Mai 2019
von Anna-Maria Haberberger
Statt des zu erwartenden monströsen Unwetters ringsum die Insel Tauris mit blutigen Menschenopfern und machtvollen Schandtaten mitten unter Göttern, inszeniert der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski eine Oper, die im Hier und Jetzt handelt und musikalisch wie schauspielerisch auflebt.
Mit einem auf einer soliden Grundidee aufbauenden, sich stets weiter entwickelnden, genialen Operngefüge lässt diese Deutung die Geschichte der griechischen Mythologie Vergangenheit werden. Dieser Einblick gibt uns unheimlich viel Tiefe in eine ganz andere Art von griechischer Sage. Es ist eine Vergangenheit, die die Protagonistin Iphigénie bis ins späte Alter nicht loslassen will.
Eine göttlich intendierte Geschichte wird auf irdischem Boden in die heutige Realität gebracht. Bewohner eines Seniorenheimes, die auf und ab wandeln und darauf warten, dass sich etwas regt – dass es Zeit für Kaffee und Kuchen wird, halten das Anfangsplädoyer.
Eine riesige gläserne Wand fungiert als Spiegel der Zeit und blendet in Flashbacks vergangene und gegenwärtige Bezugsrahmen ein. Die Vermischung dieser Zeitebenen gelingt Warlikowski – verstärkt durch die Beleuchtung (Felice Ross), die wahrhaft grandios ausgearbeitet ist und dem kompletten Bühnenbild eine gewisse Eleganz verleiht – eindrucksvoll.
Musikalisch gesehen ist Glucks dramatische Oper eine Wucht. Wahrhaftig wird der Ausbruch von Barbarei und dem lodernden Feuer, dem allen voran Dirigent Stefano Montanari bis ins kleinste Detail Ausdruck gibt. Erstaunlich wie emotionsgeladen das Stuttgarter Staatsorchester die Geschichte vorantreibt und aus zarten pianissimi und feurigen fortissimi ein grandioses Klangbett für Sänger und Bühnenbild liefert.
Glucks Musik erinnert in vielen Passagen an barocke Elemente der Affektenlehre. Leid, Kummer, Schmerz und Klage wird musikalifiziert, wodurch starke Emotionen entstehen, die die Sänger wunderbar zum Ausdruck bringen. Klassisch wie dramatisch, zart-fließend wie impulsant-feurig dirigiert uns Montanari durch den Abend und reißt wirklich jeden im Publikum mit.
Besonders prägt sich das traumatische Ereignis Iphigénies (Amanda Majeski) ein, die ihren (ihr noch nicht erkennbaren) Bruder Oreste (Jarrett Ott) opfern und eigenhändig ermorden muss. Starke Erregungen begleiten den erschaudernden Moment der Spannung und des Zerwürfnisses. Erst als Oreste die Wahrheit erkennt und Iphigénie als seine Schwester enttarnt, bricht sie den Opfermord stürmisch ab, und das dramatische Geschehnis bewegt sich prompt in ein glückliches Ende, bei welchem die beiden Liebenden zueinander finden und der Bann des Familienmordes aus Rache endlich gebrochen wird.
Amanda Majeski als Iphigénie klagt wirkungsvoll von ihrem Leid und setzt hohe Spannungsbögen, die die Musik noch eindrucksvoller klirren lassen. Ein wenig direkt und handfest/stählern mag ihre Stimme über Glucks musikalische Passagen laufen, doch noch besser inszeniert und stimmtechnisch versierter könnte man sich eine äußerlich so selbstbewusste, von innen jedoch gebrochene Iphigénie nicht wünschen. Sie meistert die musikalisch-schauspielerische Vielfalt, dieses Kunstwerk der Operngeschichte bravourös und begeistert Stuttgart ohne Einwand. Ihr Gesang beseelt, wirkt hochkonzentriert und prachtvoll, klar, keine Phrase ist gepresst. Sie ist absolut überzeugend.
Auch Jarett Ott begeistert rundum. Eine prächtige Klangfülle flutet über die Bühne, durch das Publikum. Welch warm besinnliche und herausragend kontrollierte wie zugleich offenbarte Stimme uns Ott hier darbietet, bei der man das Gefühl bekommt, alles im Raum füge sich. Dramatisch retardierte Momente prägen sich in die Köpfe der Zuhörer ein, allen voran Orestes Leid und Klage über die Erlösung seines Elends. Das war erste Klasse!
Auch der übrige Cast über die Rollen des Pylades (Elmar Gilbertsson) und Thoas (Gezim Myshketa), wie auch der Opernstudio-Mitglieder Carina Schmieger, Elliott Carlton Hines und Ida Ränzlöv beeindrucken in Gänze. Erstaunlich ebenso der Opernchor, der in dieser Oper als dramatischer Akteur fungiert und die Handlung voranbringt sowie musikalisch ausfüllt.
„Mord im Namen der Götter, Mord aus Rache, Rache für den Mord“. Diese Verkettung unausweichlicher Wehmut, schmerzhafter Verzweiflung und furchtbarer Schandtaten zeigt Stuttgart in Iphigénie en Tauride. Ein wunderbarer Abend, der nicht nur das Gemüt der Klassik-Begeisterten beseelt, sondern jeden einzelnen im Publikum mit auf die Reise in die griechische Mythologie nimmt, geht zu Ende und bleibt noch lange in Erinnerung. Chapeau, das war erste Sahne!
Anna-Maria Haberberger, 21. Mai 2019
für klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung, Stefano Montanari
Regie, Krzysztof Warlikowski
Bühne und Kostüm, Małgorzata Szczęśniak
Licht, Felice Ross
Choreografie, Claude Bardouil
Dramaturgie, Miron Hakenbeck
Chor, Bernhard Moncado
Iphigénie, Amanda Majeski
Oreste, Jarrett Ott
Pylade, Elmar Gilbertsson
Thoas, Gezim Myshketa
Diane, Carina Schmieger
Aufseher des Thoas/Skythe, Elliott Carlton Hines
Griechin/Priesterin, Ida Ränzlöv
Iphigénie (Schauspielerin), Renate Jett
Staatsopernchor Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
Diese dityrambische Kritik erklärt leider nicht, inwiefern die aus meiner Sicht völlig überflüssige Darstellung der Einwohner eines Seniorenheims das „Jetzt und Heute“ dieser Geschichte aus der griechischen Mythologie verkörpern soll, inwiefern der Zuschauer diesen Spiegelvorhang benötigt, um zu begreifen, dass uns diese Geschichte noch etwas zu sagen hat. Der innere Kampf Iphigenies zwischen Pflicht und Gefühl kann dem Zuschauer wohl nur durch diesen zusätzlichen Klimbim wie Rollstuhl (anscheinend sind solche Accessoires ein Must für trendy Regisseure!) und hässliche hellgraue sich permanent drehende Plastikventilatoren an der Decke sowie das 50er-Jahre Mobiliar des Altenheims und die billigen Morgenröcke (alle Seniorenheimbewohner sind seltsamerweise Frauen) nahegebracht werden. Ganz eindeutig für die Kritikerin der Inbegriff der Eleganz!!! Letztere erklärt uns auch, wie schön es ist, dass am Ende die Liebenden (sic) Iphigenie und ihr Bruder Orest zusammenfinden! Danke für diese Aufklärung der Leserin, welche diese Inzestversion der Mythologie bis heute völlig ignoriert hat.
Eine solch hässliche, völlig statische enttäuschende Inszenierung wird die Zuschauerin nicht so schnell vergessen. Schade, dass diese Inszenierung die musikalische Qualität der Aufführung in den Hintergrund rückt.
Gisela Thiers