"DON CARLOS" IN HH – VERLOREN IM NETZWERK VON VERLIERERN: KONWITSCHNYS SPEKTAKULÄRE INSZENIERUNG BEGEISTERT NOCH IMMER

Giuseppe Verdi, Don Carlos,  Staatsoper Hamburg, 2. Juni 2019

Foto: Künstleragentur Seifert- Elena Zhidkova ©

Elena Zhidkova, Mezzosopran, in der Rolle der Prinzessin Eboli ist eine wahre Offenbarung! Die fließend Deutsch sprechende Russin singt derart ausdrucksstark und klangschön, aber auch stimmgewaltig, dass einem nur noch Schauer über den Rücken laufen. Sie ist längst kein Geheim-Tipp mehr, sondern befindet sich auf dem Zenit ihres Könnens.

Staatsoper Hamburg, 2. Juni 2019
Giuseppe Verdi, Don Carlos
(in französischer Sprache)

von Dr. Holger Voigt

Heute würde man es einen Polit-Thriller nennen und wohl eine Serie daraus machen: Wer darf wen lieben und aus welchen Gründen im Lichte von Machterhalt und Machtverteilung ehelichen?

Das große gleichnamige Drama Friedrich Schillers um Macht und Intrigen, Liebe und Verrat, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit – ein Auftragswerk der Pariser Oper – stellt Giuseppe Verdi in geradezu Wagnerschen Dimensionen auf die Bühne: Fünf Akte, fünf Stunden (mit Pausen). Die Staatsoper Hamburg zeigt die französischsprachige Originalfassung „Don Carlos“ mit deutschen Übertiteln, und nicht die italienischsprachige („Don Carlo“).

Die vom damaligen GMD der Hamburgischen Staatsoper Ingo Metzmacher und dem mehrfach ausgezeichneten Theaterregisseur Peter Konwitschny in Kooperation mit der Wiener Staatsoper 2001 erarbeitete Inszenierung greift auf (oft) nie gehörte, von Verdi aus Kürzungsgründen gestrichene Anteile nebst Skizzenmaterial (musikalisches wie szenisches) zurück. Daraus entstand ein wahrer Koloss, den anzuhören sich aber unbedingt lohnt, zumal die in ihm enthaltene Musik nur als wunderschön zu bezeichnen ist (besonders im ersten Bild). Dabei kommt immer mehr die Frage auf, ob Verdi in dieser Oper nicht tatsächlich auch „wagnert“ – da klingt vieles (z.B. Orchestrierung, Dynamik) in diese Richtung, und auch Leitmotivtechnik (z.B. Inquisitor-, Königsmotiv)  ist auszumachen.

Im Stil der französischen „Grand opéra“ enthält die Originalfassung ein (zumeist handlungsneutrales) Ballett, das in dieser Inszenierung von Peter Konwitschny als „Ebolis Traum“dargestellt wird. In dieser – nicht getanzten – pantomimischen Szene wird ein virtueller Inhalt visualisiert, wie sich Prinzessin Eboli – Jahrhunderte später – ihre kleinbürgerliche Welt schön träumt: Eheglück mit Don Carlos (mit Philippe und Elisabeth als bewirtete Hausgäste!), wunderbar parodistisch und witzig von Pavel Cernoch (Don Carlos) und Elena Zhidkova (Prinzessin Eboli) gespielt. Eine Oase der Leichtigkeit – eben nur ein Traum! – inmitten eines ansonsten düsteren Werkes, das die Zuschauer mit beklemmender Wucht in den Bann zieht.

Der Beginn der Oper führt mit einem romantisiert-dramatischen Bühnenbild (Dunkelheit, wabernde Nebelschwaden, Chor) – dem kaum bekannten Fontainebleau-Bild – unmittelbar in die Umstände des Geschehens ein. Dieser zum Verständnis beitragende Teil enthält wunderbare Musik von Wagnerscher Dichte und Verdi’scher Melodik. Es ist ein wahrer Jammer, dass dieser Teil meist nicht zur Aufführung gelangt!

In den nachfolgenden Bildern zeigt sich ein – nur auf den ersten Blick! – karges Bühnenbild: eine blockartige Mauerwand. Diese hat es aber in sich: Sie enthält zahlreiche Türen, durch die die Protagonisten ihren Auftritt oder Abgang haben. Dabei sind alle Türen größenmäßig zu niedrig, so dass jeder sich bücken muss, um durchgehen zu können. So wird jedem deutlich gemacht, wie sich ein Untertan zu bewegen hat – nämlich ehrfurchstvoll, devot und verneigend, egal, ob König oder Kirche gegenüber.

Dieses Bühnenbild dient aber auch zur Visualisierung eines schmucklosen Klostergartens (nur eine einzelne Blume ist im Vordergrund zu sehen). Und dann ist dieselbe Mauerwand auch Hintergrund der Maskenball-Szenerie, die vornehmlich durch hinreissend farbschöne Beleuchtungseffekte erschaffen wird. Und schließlich verschwindet das Ganze plötzlich wie von Geisterhand in einem Paternoster-Aufzug und gibt die spießige Kleinidylle von Ebolis Traum preis, die aus dem Boden hochgefahren wird. Das ist wirklich wunderbar konzipiert und effektvoll umgesetzt (Bühnenbild: Johannes Leiacker, Licht: Hans Toelstede)!

Ohne Kenntnis der Grundstruktur der dramatischen Dichtung Schillers erschließt sich das Musikdrama Verdis weder in der Inszenierung noch in der Musik. Wie bei Opern Wagners ist eine Befassung mit dem Libretto und auch mit dem Drama Schillers nicht nur nützlich, sondern wohl unverzichtbar, will man tatsächlich verstehen, was auf der Bühne stattfindet. Nur wenn man sich der Mühe unterzieht, für jeden einzelnen Charakter des Dramas mit der gebotenen Empathie die persönliche Motivlage zu verstehen, wird deutlich, wie großartig dieses literarische Meisterwerk Schillers tatsächlich ist. Alle Protagonisten sind in einem unheilvollen Netzwerk wechselseitiger Abhängigkeiten gefangen und verstricken sich darin mit mehr oder minder fatalem Ausgang: Fürwahr ein „soziales Netzwerk“  finsterster Prägung, das schlussendlich nur Verlierer kennt.

Es ist eine kaum weniger bedeutende Meisterleistung, wie es Giuseppe Verdi gelungen ist, dieses psychologische Kollusionsgefüge in musikdramatische Dimensionen zu übersetzen. Verdi lässt dabei in großen Arien der Protagonisten das Publikum an ihren Seelenqualen Anteil nehmen (Arie des Philippe: „Elle ne m’aime pas!“, zu Deutsch: Sie hat mich nie geliebt; Arie der Eboli: „O don fatal“, zu Deutsch: „Oh, fatales Geschenk“). Grandiose Charakterzeichnungen sind vom Komponisten meisterhaft umgesetzt. Auch das weithin bekannte Männer-Duett Don Carlos/Rodrigue („Dieu, tu semas dans nos ames“,zu Deutsch: „Gott, du hast in unsere Seelen gesät“), ist ein absoluter Höhepunkt dieser Oper.

Das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Maestro Pier Giorgio Morandi zeigte sich in fabelhafter Verfassung. Selten klangen die Streicher so transparent, punktgenau und klangschön wie an diesem Abend. In den dynamischen, blechgestützten Abschnitten schwoll der Orchesterklang derart dramatisch an, dass die volle Wucht des Dramas auf die Zuschauer überging. Dabei hatte Alexey Bogdanchikov (Rodrigue, Marquis de Posa) schon mal zu kämpfen, um sich gegen die Klangwucht zu behaupten. Die Abstimmung mit dem Chor, der oft auch aus dem Hintergrund oder dem Off zu singen hatte, war absolut perfekt – nie zu leise, nie zu laut!

Der Chor der Staatsoper Hamburg (Leitung: Eberhard Friedrich) wurde vom Kinderchor der Hamburgischen Staatsoper (Alsterspatzen) unterstützt und hatte umfangreiche, dabei aber sehr vielfältige Aufgaben wahrzunehmen. Dabei kam die darstellerische Spielfreude voll zur Geltung, auch angesichts der aufwändigen und wirklichkeitsgetreuen Autodafé Inszenierung. All das gelang absolut perfekt!

Mit einer sehr anrührenden Sopranstimme sang Na’ama Shulman als Marilyn Monroe-Inkarnation im Scheinwerferlicht die abgeurteilten Ketzer vor versammelten Party-Gästen in den Himmel – eine äußerst bizarr anmutende Szene.

Die Ankunft von König und Königin nebst Hofstaat – vom Bahnhof Hamburg-Dammor kommend – und das Kesseltreiben der Ketzter durch Foyer, Treppenaufgang und Parkett – gehört zu der Spektakel-artigen Inszenierung Konwitschnys, der den Begriff „Musiktheater“ auf dem letzten Wortanteil betont. Fraglos gehört dieser Teil seiner Inszenierung zu den umstrittensten. Er gleicht eher einem Happening als einer stringenten Inszenierung, polarisiert aber noch immer. Die anfänglichen Wogen aus dem Premierenjahr 2001 scheinen sich aber, zumindest in der liberalen Hansestadt,  längst geglättet zu haben – es gab keine Buhrufe. Die Darstellung einer Ketzerverbrennung als Volksfestevent mitsamt multimedialer Abdeckung durch Funk und Fernsehen hatte wohl beabsichtigen wollen, den Zuschauern durch unentrinnbare Einbeziehung die Botschaft zu vermitteln: „In Eurer Selbstgerechtigkeit seid Ihr doch auch alle eben nur Voyeure“.

Genau weiss man das aber nicht, und richtige Betroffenheit kam trotz der Anspielung auf Judenverfolgung (Flugblätter regneten in das Parkett) letztlich doch nicht auf. Man mag darüber spekulieren, ob derartige Theatermittel sich nicht mittlerweile bereits überlebt haben; immerhin hielten diese Szenen die Zuschauer bei der Stange und verkürzten die subjektive Wahrnehmung der langen Spieldauer der Oper.

Stimmlich war dieser Opernabend geprägt von durchgehend hervorragenden sängerischen Leistungen.

Dabei überraschte zunächst der agil-athletische Tenor Pavel Cernoch (Don Carlos) durch deutliche Anfangsschwierigkeiten. Obwohl er über ein sehr klangschönes Stimmmaterial verfügt, klang sein Tenor anfangs sehr eng und schien sich nur in den Mittellagen klangschön zu entfalten. Im oberen Register wirkte die Stimme fast wie zugeschnürt und passte nicht zu den klangschönen Anteilen der Mittellage. Zudem intonierte Cernoch oft auch mit einem ausgeprägten Anfangsschluchzer, der sehr störend wirkte (zumal es ja auch an dieser Stelle noch nichts zu beweinen gab). Aber mit zunehmender Spieldauer verschwanden diese Merkmale immer mehr, und seine Stimme fand zu einer sehr klangschönen und ausdrucksstarken, aber auch kraftvollen Tenorstimme zurück. Es kann angenommen werden, dass diese am Anfang noch nicht vollständig eingesungen war, denn klangschön ist sie allemal.

In der Rolle des Rodrigue, des Marquis de Posa, überzeugte Alexey Bogdanchikov mit einem sehr an einer Mittellage haftenden, ausdrucksstarken und dramatischen Bariton. Im Freundschafts-Duett zeigte er zusammen mit Pavel Cernoch wahre Spitzenklasse. Da steckte die ganze Rollendramatik drin, die Verdi in sie hineingepackt hat. Großer Beifall für ihn, den bebrillten Freiheitskämpfer, dessen Gesinnung nach seiner Ermordung auf Don Carlos übergeht, ohne dass dieser davon profitieren kann.

Elena Zhidkova, Mezzosopran, in der Rolle der Prinzessin Eboli war eine wahre Offenbarung! Die fließend Deutsch sprechende Russin sang derart ausdrucksstark und klangschön, aber auch stimmgewaltig, dass einem nur noch Schauer über den Rücken liefen. Sie ist längst kein Geheim-Tipp mehr, sondern befindet sich offenbar auf dem Zenit ihres Könnens. Zudem agierte sie behende, glaubwürig und – in der Traum-Szene – umwerfend komisch.

Lianna Haroutounian in der Sopran-Rolle der Elisabeth von Vallois (Isabella) zeigte bereits mit dem ersten Ton, dass sie eine hervorragende Sopranstimme hat. Klar, hell, mit angemessenem Vibrato, dabei sprachdeutlich phrasierend, mit großer Ausdruckskraft verkörperte sie die Rolle einer opferbereiten Königin, die es nie verstehen gelernt hatte, ihre eigenen Bedürfnisse zu verfolgen. Wenn sie am Schluss der Oper zusammen mit Don Carlos in das Kloster eingelassen wird, weiss niemand, wie es mit ihr weitergehen könnte. Sie ist von Anfang an eine Verliererin.

Ein Verlierer ist auch König Philippe II., in der Bassrolle gesungen von Gábor Bretz. Er erweist sich als mitleidsloser Machtherrscher, dessen eigenes Mitleid sich nur um sich selbst dreht. Dabei verfolgt er seine düsteren Ziele mit unbeugsamer Härte, ist sich aber auch nicht zu schade, mit dem Inquisitior zusammen zu arbeiten, um seinen eigenen Sohn zu töten. Glänzender Einfall der Dramaturgie (Dramaturgie: Werner Hintze): Mit gemeinsam gehaltenen Arn bewegen König und Inquisitor zusammen den Blindenstock wie einen Degen und richten ihn auf Don Carlos. So viel Finsternis in der Seele und das triefende Selbstmitleid verlangen nach einer großen Stimme. Diese konnte Gábor Bretz  überzeugend zum Einsatz bringen, da war alles klangschön und richtig dosiert vertreten. Irritierend wirkend war indes der Einfall der Regie, bei seiner Selbstklage die Prinzessin Eboli auf sein Ehebett zu positionieren, so dass nun plötzlich kein Monolog-Gesang mehr zur Darstellung kam, was Einiges von der ariosen Wirkung wegnahm (leider!). Vermutlich sollte ja visualisiert werden, dass der König selbst auch schon einmal ein Verhältnis mit der Prinzessin Eboli hatte.

Die Rolle des Großinquisitors ist eine hochdramatische Bassrolle, die von Luigi De Donato mit all der erforderlichen Finsternis und Drohgebärde gesungen wurde. Der Großinquisitor trägt keinen Namen. Er verkörpert eine Institution, und eine Institution kennt keine Gefühle. Genau das wird in der Musik deutlich. Im „Wettstreit“ der beiden alten Männer (Inquisitor, Philippe) gab es keinen Sieger, ein teuflisches Gebräu schwebt weiterhin über dem Werk. Diese tiefen Abgründe der Seele, die Unerbittlichkeit der Institution Inquisition wurde brilliant mit allen Tiefen der Stimme (= des Charakters der Rolle) ausgelotet. Das war eine ganz hervorragende Darbietung, die viel Applaus brachte!

Die Häscher von König und Inquisition – nunmehr als solche nicht mehr in historischen Kostümen, sondern Gegenwartskleidung –  stellen die Flüchtigen – Don Carlos und Elisabeth –, doch bevor es zum Gemetzel kommt, öffnet sich das Tor des Klosters zu deren Rettung. Erneut ertönt die Stimme eines mysteriösen Mönches, der sich als der verstorbene König Carles V, Vater von Philippe II und Großvater von Don Carlos erweist. Diese Rolle – ebenfalls eine Bass-Partie – wurde von Alin Anca klangschön und teilweise hochdramatisch hervorragend gesungen.

Das überwältigte Publikum applaudierte stehend voller Begeisterung. Eine gigantische Leistung aller Beteiligten, viele Ovationen für Gesangssolisten, Chor und Orchester. Alle schienen selig erschöpft zu sein – es gab nur wenige Vorhänge. Aber was für ein Opernabend! Das war fürwahr große, große Oper in Hamburg und begeisterte alle!

Dr. Holger Voigt, 3. Juni 2019,  für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Musikalische Leitung: Pier Giorgio Morandi

Chor: Eberhard Friedrich

Inszenierung: Peter Konwitschny

Bühnenbild und Kostüme: Johannes Leiacker

Licht: Hans Toelstede

Dramaturgie: Werner Hintze

Philippe II: Gábor Bretz

Don Carlos: Pavel Cernoch

Rodrigue: Alexey Bogdanchikov

Le Grand Inquisiteur: Luigi De Donato

Un Moine: Alin Anca

Elisabeth de Valois: Lianna Haroutounian

La Princesse d’Eboli: Elena Zhidkova

Thibault: Gabriele Rossmanith

Le Comte de Lerme / Un Héraut: Hiroshi Amako

Une Voix céleste: Na’ama Shulman

La Comtesse d’Aremberg: Corinna Meyer-Esche

Un Bûcheron: Andreas Kuppertz

Six Députés flamands I: Eun-Seok Jang

Six Députés flamands II: Michael Kunze

Six Députés flamands III: Manos Kia

Six Députés flamands IV: Julius Vecsey

Six Députés flamands V: Peter Veit

Six Députés flamands VI: Bernhard Weindorf

Chor und Extrachor: Chor der Hamburgischen Staatsoper

Kinderchor: Alsterspatzen – Kinderchor der Hamburgischen Staatsoper

Orchester: Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

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