Foto: © Olya Runyova
Elbphilharmonie Hamburg, 4. Juni 2019
Teodor Currentzis
Mahler Chamber Orchestra
musicAeterna chorus of Perm Opera
von Dr. Holger Voigt
Solange man lebt, ist man noch nicht tot. Tote werden betrauert, aber Lebende bedürfen der Hoffnung, der Zuversicht und des Trostes. In diesem Sinne kehrte sich Johannes Brahms, der große symphonische Sohn Hamburgs, von der streng formalen liturgischen Struktur katholischer Messen und Requien ab und schuf – geradezu einem musikalischen Paradigmenwandel entsprechend – eine protestantische Antwort, die voller menschlicher Wärme die Lebenden trösten und Versöhnung stiften soll.
In Hamburg wird Johannes Brahms als einer der bedeutendsten Musikschaffenden der Hansestadt verehrt, obwohl er später nach Wien ging, da er eine gewünschte Anstellung nicht erlangen konnte. Der Schlusssatz seiner 1. Symphonie wird von vielen Hamburgern noch heute als inoffizielle Stadthymne empfunden, deren Hauptthema gar mit entsprechendem Text unterlegt werden könnte: „…ich liebe mein Hamburg…“ In seinen symphonischen Werken finden sich hochromantische, geradezu im frischen Wind atmende Themen, die in charakteristischer Weise der norddeutschen Landschaftsempfindung entsprechen und damit die Verankerung des Komponisten in seiner Heimatstadt begründen.
Es ist deshalb hochinteressant zu erfahren, wie ein „zugereister“ Nicht-Hamburger mit dem Werk Brahms’ umgehen wird, insbesondere, wenn es sich um das monumentale Deutsche Requiem („Ein deutsches Requiem“) handelt, dass in Hamburg oft nur in der evangelischen Kirche St. Michaelis („Michel“) aufgeführt wird. Erwartungsspannung und Vorfreude waren also riesig groß, da sich mit Teodor Currentzis ein wahrer Pultstar-Dirigent angekündigt hatte, für dessen Konzert alle Karten binnen kürzester Zeit ausverkauft waren.
Nicht sein eigenes Orchester musicAeterna aus der Uralstadt Perm brachte der griechisch-russische Stardirigent nach Hamburg mit – wohl aber den dort singenden mächtigen Chor, den musicAeterna chorus of Perm Opera, deren Mitglieder allesamt in langen, bodenaufliegenden Kutten-artigen Gewändern in schwarzer Farbe die Bühne betraten. Als Orchester war das Mahler Chamber Orchestra ausgewählt worden, deren Musiker ebenfalls durchgehend in Schwarz gekleidet waren. Zusammen mit dem hochgewachsenen Dirigenten in schwarzen Lackschuhen, schwarzer Röhrenhose und schwarzem Muskel-Shirt bei schwarzen Haaren kann man gut nachvollziehen, dass einige Zuschauer wohl den Eindruck haben mochten, einer „schwarzen Messe“ beizuwohnen. Wenn es dann noch um das Thema „Tod“ geht, konnte einem ja Angst und Bange werden. Doch es sollte anders kommen: Die Musiker werden die Elbphilharmonie zum Leuchten bringen.
Als Gesangssolisten waren Wiebke Lehmkuhl (Alt), Nadezhda Pavlova (Sopran) und Tobias Berndt (für den verhinderten Dimitris Tiliakos) vorgesehen.
Wann immer man dem Mahler Chamber Orchestra begegnet – und ich selbst hatte glücklicherweise schon oft die Gelegenheit dazu – trifft man auf einen hochdifferenzierten Orchesterklang subtilster Transparenz und Musikalität : wie geschaffen für die Elbphilharmonie. Die Orchestermitglieder spielten alle im Stehen – mit Ausnahme derjenigen, deren Instrumente eine sitzende Position verlangen (Celli, Kontrabass, Harfe, Perkussion). Was das bedeutet, konnte man unmittelbar sehen (!) und hören: Jeder einzelne Musiker konnte sich in seiner individuell aufgebauten Spannung und Körpersprache frei im Raum ausdrücken und die Musik motorisch ausleben. Ein eindrucksvolles Bild der individuellen Musikalität ohne jegliche starre Konfiguration des Klangkörpers, die durch sitzende Positionen vorgegeben wäre. Alles bewegt sich im Orchester! Hier lebt die Musik und ist damit so weit vom Tod entfernt, dass allein dadurch schon Wärme die Elbphilharmonie flutet. Kein Wunder, dass der Klang so schön war! Ein wahrlich meisterlicher Auftritt des Orchesters, für das ich mich immer mehr begeistere.
Auf dem Programm – in zwei Teilen mit Pause zusammengestellt – standen Morton Feldmans kurzes (5 Minuten) Stück Madame Press died last week at ninety, dem die Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53 nachfolgte. Nach der Pause folgte dann Brahms’ großes Oratorium „Ein deutsches Requiem op.45“.
Morton Feldmans nur knapp 5 Minuten langes Stück Madame Press died last week at ninety gleicht einer zweitönigen Klanginstallation. Dabei wird das Zweiton-Motiv signalhaft von der Flöte intoniert und ständig wiederholt, wobei unterschiedliche Instrumente reihum zur Erzeugung begleitender Klänge in unterschiedlichen Klangfarben an dem „Thema“ vorbeigeführt werden. Ist das „Thema“ quasi statisch, so scheinen sich die anderen Klangeffekte um dieses Thema in einem Kreis zu bewegen. Strukturell sehr interessant, indes konnten offenbar die meisten Hörer damit nicht viel anfangen.
Die „Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53“ war mir persönlich bis dato unbekannt und für mich die eigentliche Entdeckung des Abends. Es handelt sich um eine Komposition aus dem Jahr 1869 und wurde ein Jahr später uraufgeführt. Die Bezeichnung „Rhapsodie“ ist vieldeutig und weist auf eine gedichthafte chorale bzw. vokale Komposition hin, die man auch als Mini-Symphonie oder Orchesterlied mit Chor auffassen könnte. Die Einordnung dürfte also – je nach Auffassung – sehr variabel ausfallen. Für mich erkenne ich in erster Linie die Komposition als Orchesterlied der Romantik, die interessanterweise schon die erst später folgenden Orchesterlieder von Gustav Mahler oder Richard Strauss in Ansätzen erkennen lassen.
Gesanglich ist die Wahl einer Altstimme in Zusammenklang mit einem tief romantischen Streicherklang und einem entfernt klingenden Chor eine ideale Besetzung. Und genau dieses wird an diesem Abend durch die wunderschöne, klare und kräftige Altstimme von Wiebke Lehmkuhl verdeutlicht, deren Ausdruckskraft im ganzen Saal tiefe Berührung auslöste. Ein wahrer Höhepunkt des Abends! Diese Stimme möchte man gern öfter hören!
Das Deutsche Requiem beginnt nach der Pause mit einer anrührenden Introduktion von Streichern und Holzbläsern und später dann „hauchartig“ einsetzendem Chor (nach dem Text der Seligpreisungen). Fast aus dem Nichts der Stille kommend entsteht unmittelbar eine tröstliche Klangwärme. Es ist nichts Angstmachendes, Aufgeregtes darin zu hören, sondern ausschließlich friedvolle Ruhe.
Wie ein Schlangenbeschwörer titriert Currentzis die sich anschwellende Klangdynamik auf das Feinste. Das Trostversprechen des Textes findet musikalisch seinen zutiefst berührenden Höhepunkt im Schlussteil, in dem die Melodie den Chor mit Sopran- und zeitversetzt nachfolgenden Tenorstimmen ihren im Crescendo entwickelten Schlusspunkt erreicht. Damit legt Currentzis das Fundament für das gesamte Werk, auf dem die anderen Teile aufbauen.
Leider gab es nach diesem berührenden ersten Abschnitt einige Klatscher, die die Atmosphäre empfindlich störten.
Der zweite Abschnitt „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras…“ erzeugt in marschartigem Tempo eine sich aufbauende Spannung, wobei die Frauenstimmen im Chor die tröstliche Grundstimmung bewahren, bis dann in einem anschwellenden Crescendo Männer- und Frauenstimmen zusammen – unterstützt durch Blechbläser und Perkussion – die Ernsthaftigkeit des Textes herausstellen. Und wieder sind es die Frauenstimmen des Chores, die versöhnliche Töne anstimmen, bis der Trauermarsch-artige Duktus wieder zu einer bedrohlichen Klangkulisse anwächst. Currentzis lässt dieses in seiner Körpersprache gestisch unmissverständlich erkennen – je bedrohlicher es wird, desto hochgereckter steht er auf dem Dirigenten-Podest, um Chor und Orchester im Fortissimo dorthin zu führen, wo er es hinhaben will. Einer Eruption gleich durchbrechen die Frauenstimmen des Chores den düsteren Marsch, um Hoffnung anzukündigen und Schmerz und Leid hinter sich zu lassen. In diesem, vorwiegend vom Chor getragenen Abschnitt erscheint es fast so, als wäre Currentzis ein Bildhauer, dessen Kunstwerk von ihm unablässig nachmodelliert wird, wobei ihm Chor und Orchester intuitiv folgen, ohne dass er einer großen Geste bedürfte.
Der dritte Abschnitt „Herr, lehre doch mich…“ führt die Bariton-Stimme ein, die sich direkt an Gott wendet, um verstehen und begreifen zu lernen. Tobias Berndt, der kurzfristig für den verhinderten Dimitris Tiliakos eingesprungen ist, überzeugte mit einer schönen, klar geführten, kräftigen und textdeutlichen Baritonstimme, wobei diese an einzelnen Stellen etwas zu legatohaft klang. Der Schlussteil dieses Abschnittes endete in einem fugierten Chorgesang, der in einem punktgenauen Nachhall zum Abschluss kam. Gebannte Stille in der gesamten Elbphilharmonie.
Im vierten Abschnitt „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth…“ wird das Trostversprechen praktisch ausschließlich vom Chor in friedvoller Weise vorgetragen. Currentzis lässt hier den Chor mit großer Ausdruckskraft frei aussingen, was an Versöhnlichem in der Komposition niedergelegt ist. Seine weit ausladenden Armbewegungen scheinen den Chor förmlich umhüllen und tragen zu wollen.
Im fünften Abschnitt „Ihr habt nun Traurigkeit…“ übernimmt der Sopran die Kommunikation zwischen Schöpfer und Geschöpfen. Aus dem Pianissimo entspringt die betörende Melodie und wird musikalisch dialogisch ausgeführt. Das initiale Pianissimo ist eine wahre Tücke: Wird es zu absichtsvoll intoniert, droht Gefahr, dass der ganze Ton plötzlich ausbleibt. Nadezhda Pavlova hatte damit anfänglich vermutlich Schwierigkeiten, denn die fast ausgebliebenen Töne waren so hauchartig, dass es so schien, als müssten sie nachkalibriert werden. Hier waren sicher auch die Tücken der Akustik in der Elbphilharmonie mit verantwortlich, ggf. auch der sog. Stellplatz der Solistin auf dem Podium. Sobald der Pianissimo-Bereich verlassen war, entfaltete sich eine klare, schöne und ausdrucksstarke Stimme, die diesem bewegenden Teil des Werkes seine besondere Prägung verlieh.
Im sechsten Abschnitt „Denn wir haben hier keine bleibende Statt…“ hat man gelegentlich schon beinahe den Eindruck einer opernhaften Komposition. Chor und Solist steigern sich bis in ein furioses Finale. Fast übermütig und ohne jeden Zweifel nimmt der Chor die Rolle des Wissenden an und scheut auch die Auseinandersetzung nicht: „Tod – wo ist Dein Stachel?“.
Dieses war nun Currentzis‘ Meisterstück: Hier musste alles stimmen, jeder Akzent musste akkurat sein. Texte wurden vom Chor stakkato-artig kurz gesungen, dabei aber präzise und sprachdeutlich. Das Orchester zog jegliche Akzentsetzung mit und war dabei traumwandlerisch sicher – es gab nicht den leisesten Ansatz eines Spielfehlers. Eine gewaltige Dramatik entstand (opernhaft!) und blieb im Saal wie eine schwebende Wolke präsent, bis im siebenten Abschnitt „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben“ der Rahmen geschlossen und die Trostverheißung in den Seligpreisungen – nunmehr auf einer höheren Erkenntnisebene – wiederholt wurde. Im Pianissimo klang das monumentale Werk aus.
Minutenlange Stille und Unbeweglichkeit – eine fast wie eingefroren wirkende Kulisse. Einige Besucher konnten es nicht aushalten und wagten es zu klatschen, wurden aber niedergezischt. Erst als sich Currentzis, der große Klangmagier aus dem Ural, entspannte, brach frenetischer Beifall aus. Minutenlange standing ovations in alle vier Richtungen (Currentzis hat die Elbphilharmonie verstanden!). Fast wie beim Fußball in der jeweiligen Fankurve nahmen er, Solisten, Orchester und Chor ihren wohlverdienten Applaus entgegen – mit choreografisch perfekten Verbeugungen. Die Elbphilharmonie ist bis zum Dach beseelt, und ein großartiges Konzert schreibt Geschichte.
Dr. Holger Voigt, 4. Juni 2019, für klassik-begeistert.de
Mahler Chamber Orchestra
musicAeterna chorus of Perm Opera
Nadezhda Pavlova, Sopran
Wiebke Lehmkuhl, Alt
Tobias Berndt, Bariton
Teodor Currentzis, Dirigent
Morton Feldman, Madame Press died last week at ninety
Johannes Brahms, Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53
Johannes Brahms, Ein deutsches Requiem op. 45
Hervorragend von Musik über Gefühle in Worte übersetzt, lieber Herr Dr. Voigt! Es war ein einzigartiges musikalisches Erlebnis und wunderbar Ihre Nachbarin gewesen zu sein.
Herzliche Grüße – wieder aus Mainz – Martina Mattick-Stiller